Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Mittwoch, 20. Juni 2018

DAS BÖSE KOMMT AUF LEISEN SOHLEN: HEREDITARY- DAS VERMÄCHTNIS (2018)




"Hereditary" ist einer jener Filme, bei dem der Genuss am Größten ist, wenn man vorab am wenigsten über die Handlung weiss. Daher werde ich dazu wenig sagen. Ich versuche mich eher an einer spoilerfreien Gebrauchsanweisung für diesen ungewöhnlichen Film.





Schon der Einstieg ist ein Hinweis. Eines der detailgenau nachgebildeten Puppenhäuser, regelrechten Dioramen, die Annie Graham (Toni Colette) zu basteln pflegt um ihren Alltag zu bewältigen rückt unserem Auge unaufhaltsam näher, und näher – bis sich, völlig übergangslos, die Tür öffnet und der Vater der Familie eintritt, um mit seinem Sohn zu reden. Ohne es zu bemerken oder zu sehen, sind wir vom Puppenhaus in dessen reales
Vorbild gelangt.
Wie – das weiß kein Mensch zu sagen,

Dieser Einstieg ist ein Hinweis auf die außergewöhnliche visuelle Originalität des Films der folgen wird. Er ist auch ein Hinweis darauf, dass die Figuren der Geschichte möglicherweise doch nicht über den freien Willen verfügen, den sie sich einreden, dass sie von unsichtbaren Mächten zu deren Plan sie gehören, gesteuert werden könnten. Dass ihnen ihr Pfad, wie in einer griechischen Tragödie schon unaufhaltsam vorgezeichnet sein könnte.


Dann findet sich Annie Graham, mit Ehemann Steve (Gabriel Byrne), ihrer Tochter Charlie (Milly Shapiro) und ihrem Sohn Peter (Alex Wolff) bei der Beerdigung ihrer Mutter Ellen wieder, die jüngst 78-jährig verstorben und nun für die Trauerrede aufgebahrt ist. Viele „neue Gesichter“ fallen der Tochter auf. Mehr als doppeldeutig erweist sich ein zutiefst unheilvoller Satz innerhalb Annies Trauerrede: 

„Meine Mutter war eine sehr verschwiegene Frau die wenig von sich preisgab; nichts über ihre Rituale, nichts über ihre Freunde, nichts über ihre Ängste.“
Die Bedeutung jedes dieser Worte wird sich im Verlauf des Filmes noch enthüllen, und man wird sich hinterher – vielleicht? - wünschen manches wäre zugedeckt geblieben.

An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass der Tod der Mutter bzw. Großmutter etwas in Gang setzt, etwas das unaufhaltsam ist...


Abendessen des Grauens.
Eine seltsam dysfunktionale Familie ist das, die uns da vorgestellt wird. Da haben wir die ziemlich manische Annie, die ihre unheimlichen Miniaturen des wirklichen Lebens baut, massive Probleme mit chronischem Schafwandeln hat, und immer in der Angst schwebt etwas von der in ihrer Familienlinie bezeugten Geisteskrankheit könne sich vererbt haben. Da ist der passive, ewig skeptische Steve, der weder willens noch in der Lage ist seiner Frau Paroli zu bieten. Ein Phlegmatiker im Besten wie im schlechtesten Sinne. Und dann diese Kinder! Peter der klassisch postpubertäre Neurotiker der sich brennend für Mädchen interessiert und schon Kontakte mit Alkohol und Pott hat – zu seiner Mutter aber ein eisig distanziertes Verhältnis pflegt. Seine kleine Schwester Charlie hingegen, nicht gerade eine Schönheit, geistig der Welt leicht hinterher, stark introvertiert, geprägt von jeder Menge makaberer Traits, die manchmal wie besessen Schauerbilder malt und gelegentlich merkwürdige Knacklaute aus ihrer Kehle dringen lässt.

Die amerikanische Ideal-Familie sieht anders aus.
Die reale unter Umständen allerdings genau so.

Diese Familie wird ein schrecklicher (und unvergesslicher) Schicksalsschlag widerfahren und sie völlig aus der Bahn werfen. Regiedebütant Ari Aster wird uns zwingen dem knallharten und superb gespielten Drama einer Familie die über dem Entsetzen auseinanderbricht beizuwohnen, es auszuhalten, während wir kaum bemerken wie nach und und nach etwas Böses und Unheiliges durch die Ritzen der ungefilterten Realität rieselt und sickert. Ganz langsam, doch unaufhörlich. Bis -......


Ari Aster mit Toni Collette

Schon hier bricht Aster (auch Drehbuch) mit den Regeln des dramatischen Handwerks. Er lässt den Zuschauer nämlich mit allen Hinweisen, mit allem was er zusammendenken soll, allein. Ohne Führung. Die übliche dramatische Linie und Haltepunkte die einen , nicht nur aber ganz besonders im unheimlichen Film, durch die Handlung geleiten wird man vergeblich suchen. Sie sind nicht da. Was passiert ist alles verstehbar und klar erzählt, aber der Rahmen der Bedeutung gibt, fehlt. Wir wissen nicht, und sollen nicht wissen, wie die Regie erwartet dass wir einordnen was dieser Familie in ihrer Trauerabeit zustößt. 
Über eine Stunde lang hat der Zuschauer keine Chance zu erkennen wohin der Film steuern will, was der Punkt ist, auf den alles zusteuert. Eine sehr absichtliche und sehr bewusste Entscheidung. Eine gewollte Desorientierung.

Eine Desorientierung die schutzlos macht.

Der letzte Horrorfilm, der das in dieser Konsequenz und Kühnheit gewagt und auf diesem Niveau umgesetzt hat, der den Zuschauer seiner selbst so ausgesetzt hat, ihm sogar noch (wie auch „Hereditary“) die Zufluchtsmöglichkeit einer konventionellen Filmmusik nahm, liegt 45 Jahre zurück.

Sein Name war „Der Exorzist“.

Aber während der 90 durchaus nervenaufreibenden und teilweise unerträglich intensiven Minuten, die der Film auf sein 30-minütiges Finale Furioso zutreibt, Handlungsentwicklung betreibt, die wir erst später verstehen und wahrnehmen, treibt er zugleich ein brillantes und äußerst konsequentes Foreshadowing. Er webt Fäden des Schreckens die ihre Wirkung erst später entfalten. Nichts ist Zufall, alles hat eine Bedeutung. 
Dem Zuschauer sei angeraten auf Details an Bildrändern ganz besonders zu achten. Auf Symbole oder Embleme, auf scheinbare Nebensächlichkeiten oder zufällige Begegnungen. Einzelne Satzfetzen. Metaphern (wie z.B. bestimmte wiederkehrende Tötungsarten) die sich durch die Handlung ziehen.
Alles erfährt später eine Auflösung.

Auch dieses Foreshadowing hat man, in dieser Qualität nur selten gesehen, am noch immer Überzeugendsten vor 51 Jahren, als Mia Farrow mit John Cassavetes in das alte Bramford Manor in New York zog, um dort Opfer einer okkulten Verschwörung zu werden und das Kind des Teufels zu gebären – in Polanskis „Rosemarys Baby“.

Und man sollte wissen, dass „Hereditary – das Vermächtnis“ ein Hybrid ist. Es ist ein Horrorfilm, aber ein arthouse-Horrorfilm mit einem avantgardistisch angehauchten Kunstanspruch. Und ja, es ist zwar ein Kunstfilm der durchaus an die intensiveren Arbeiten Ingmar Bergmans in den Frühsiebzigern erinnert, aber dennoch erschreckend, und die Geduld und Imaginationskraft die er einem bisweilen abverlangt (und das was man an Schock ertragen können muss) zahlen sich für Horrorfans aus, wenn der Film schließlich, ohne jede falsche Scham in den übernatürlichen Horror einmündet den er die ganze Zeit schon so subversiv und subtil vorbereitet hat.


Drehbuchautor und Regisseur Ari Aster, bislang nur mit Kurzfilmen in Erscheinung getreten, verblüfft mit diesem hochoriginellen Debüt in jeder Hinsicht. Die Inszenierung kommt mit der radikalen Souveränität, dem handwerklichen Know-How und dem Einfallsreichtum eines arrivierten, erfahrenen Spielfilmregisseurs. Die ästhetische Konsequenz des Films ist bestechend. Aster verlässt mit „Hereditary“ nicht ausgetretene Genrepfade, er schlägt einen ganz neuen. Durch den Wald. Am Amazonas. Es gelingt ihm die Erwartungshaltung des Zuschauers, dessen Konditionierung auf Erzählmuster, fast immer durch überraschende Lösungen zu unterlaufen. Daher erwischt er sein Publikum auf eine Weise auf die es nicht gefasst sein und mit der es unmöglich rechnen kann und destabilisiert daher dessen Wahrnehmung auf dieselbe Weise wie die der Figuren.

Die Schockmomente überzeugen nicht zuletzt deshalb weil Aster sie, im Zusammenspiel mit Musik, Kamera und Schnitt, virtuos in Szene setzt. Er zeigt ein untrügliches Gespür dafür, wie viel er dem Zuschauer zumuten und auch, wieweit er diese Grenzen überschreiten kann. Dazu benötigt Aster weder Gore und Splattereffekte, noch massiven CGI Einsatz, sondern lediglich kreatives, altmodisches Filmhandwerk und das untergründige Spiel mit unseren Urängsten. Dass es ihm dennoch gelingt den Spannungsbogen, sowie die innere Anspannung des Zuschauers, über weite Strecken des Films bis zur völligen Beklemmung hochzuschrauben und zugleich durch exzellente, entfesselte Schauspielerführung die Intensität noch weiter zu erhöhen, ist eine durch und durch beachtliche Leistung. Eine Leistung die auf einem Verständnis des Metiers, der Filmkunst und ganz speziell des Genres beruht, das aus der Zeit gefallen scheint. Wir befinden uns zu jeder Zeit in der Hand eines Meisters.

Chronik eines angekündigten Nervenzusammenbruchs: Toni Collette

Die Momente des Grauens in seiner Inszenierung erreichen, jedenfalls für ein empfängliches Publikum, einen so hohen Wirkungsgrad, dass nachvollziehbar ist, wenn Zuschauer den Film nicht am Stück durchstehen können – oder aber, wie ich selbst, regelrecht auf ihrem Stuhl einfrieren, unfähig sich zu regen.

„Hereditary“ ist ein Film der die Macht und die Gewalt hat ein empfängliches Publikum tatsächlich physisch zu ängstigen.


Der Besetzung namentlich des inneren Familienkreises wird hier darstellerisch sehr viel mehr abverlangt, als in Genre-Filmen dieser Coleur heutzutage (leider) üblich geworden ist. „Hereditary“ entwickelt sein massives Grauen ja aus einem beinhart- kompromisslosen Familiendrama heraus, dass das auf einem so hohen Level funktioniert, ist ein Verdienst des durchwegs exquisiten Ensembles, aus dem eine überragende Toni Collette und der großartig spielende Alex Wolff hervorstechen. Collettes Darbietung hat eine intensive, ungebremste, 100% authentische Roheit der Emotion, für die sich nur schwer und nicht ohne Weiteres Vergleiche ziehen lassen. Gina Rowlands fällt mir da als allererstes ein, in ihrer tour de force einer psychisch Kranken in der Indie-Perle „A Woman Under The Influence“ von 1974, unter der Regie ihres Ehemannes John Cassavetes (desselben Cassavetes der 1968 mit Mia Farrow in „Rosemaries Baby“ spielte). Das, ungefähr, wäre der Maßstab für das wozu Toni Collette hier seelisch entäußert.


Wolffs Darbietung hingegen, der in der Rolle des Peter immer heftigeren Schocks ausgesetzt wird, bleibt stets unter der mühelosen Kontrolle des glänzenden underactings des jungen Schauspielers, während eines enorm herausfordernden Bogens der vom normalen emotionsgebeutelten Teenie bis fast zum schieren Wahnsinn – oder etwas sehr viel Schlimmerem – reicht.
Aber auch Altstar Gabriel Byrne in der undankbaren aber tief erlebten Rolle des ewig Zaudernden an konservativen Begriffen und Grenzen der Welt festhaltenden Familienvaters und Milly Shapiro, in ihrem Filmdebüt sind exzellent.


Shapiro, in Wirklichkeit bereits 15 Jahre alt, und (Interviews zeigen es) erschreckend reif für dieses Alter, hat in gewisser Hinsicht sogar die schwerste Rolle, weil sie Ungesagtes und Unfassbares in Ausdruck bringen muss – in einer Weise die es erlaubt dass es im geistigen Gewerk des Zuschauers über eine Stunde später „klick“ macht. Dass ihr das mit erstaunlicher Überzeugungskraft gelingt, dürfte an ihrer Theatererfahrung liegen. Bis Januar 2017 stand sie über 1500 Mal als „Matilda“, in der Musicaladaption von Roald Dahls gleichnamigem Kinderbuch, am Broadway auf der Bühne, wofür sie auch einen Tony Award gewann.

Die Kameraführung von Pawel Pogorzelski ist schlicht brillant und visuell stets überraschend, neuartig, kreativ. Der Ideenfundus scheint hier keine natürliche Grenze zu haben und auch wenn Pogorzelski sich an großen Vorbildern, wie John Alcotts Cinematographie für Stanley Kubricks beachtliche Verfilmung von Stephen Kings Meisterwerk „Shining“ von 1980, orientiert, so imitiert er sie doch zu keiner Sekunde. Tatsächlich gelingen ihm zahlreiche verblüffende visuelle Auflösungen von Szenen, die man so noch nie vorher gesehen hat. Dieser hohe kreative Output macht den Film optisch so betörend, zu einem Leckerbissen für Feinschmecker. Zu den Höhepunkten gehören für mich Szenen die aus einem so ungewöhnlichen Winkel oder aus so unerwarteter Entfernung (bzw. Nähe) gefilmt sind, dass man einige Sekunden braucht um sich überhaupt konkret zurechtzufinden bzw. auf das entscheidende Detail zu fokussieren um zu erkennen WAS man da eigentlich sieht, bevor einem ein gepflegtes „What the fuck...!“ über die Lippen gleitet.

„Filmmusik“ kann man den Klangteppich des kanadischen Jazzmusikers Colin Stetson im engeren Sinn fast nicht nennen, es sei denn man bezöge Zwölftonmusik mit ein, aber das spielt keine Rolle: Die Musik ist, und darauf kommt es an, ohne sich jemals in herkömmliche Melodik zu flüchten, außerordentlich effektiv und wirkungsstark, bis zu dem Punkt wo sie einen stark gesteigerten Puls und Anflüge echter Panik zu erzeugen im Stande ist. Sie liegt manchmal wie ein wabernder Nebel unter einen Szene, rumorend, sich eingrabend, langsam ansteigend wie stehendes Hochwasser, um dann jäh emporzuschießen, über eine Sherman-Tonleiter die einen unbegrenzten Anstieg auf unbegrenzte Tonhöhe simuliert (klanglich recht ähnlich dem Geräusch eines unterschwelligen Fliegeralarms oder einer Sirene), und sich unbarmherzig ins Unterbewußtsein des Zuhörers zu ätzen. Selten, wenn überhaupt je, war der Übergang zwischen Filmmusik und Geräuschkulisse derart fließend, selten mit derart beklemmender Tiefenwirkung. Streckenweise stockte einem buchstäblich der Atem.




Trotzdem möchte ich an dieser Stelle nicht den Eindruck erwecken, der Film sei ohne Mängel. Schon deshalb nicht, weil es keine perfekten Filme gibt und wenn es sie doch gäbe, wären sie gewiss von antiseptischer Langeweile.

Beispielweise ist die Phase der Desorientierung einfach einen Tacken zu lang, man fragt sich irgendwann respektive beginnt sich zu fragen, ob man nicht doch versehentlich in einen Film von Jerzy Kawalerowicz geschlüpft ist. Dies vor allem, weil nicht alle der selbsterklärenden Hinweise auf den ersten Blick so selbsterklärend sind, wie Aster zu glauben scheint, speziell wenn man den Film zum ersten Mal sieht.
Als Mangel würde ich auch bezeichnen, dass Aster im ganzen Konstrukt nicht eine einzige positive oder auch nur sympathische Figur gelingt, speziell nicht in der im Mittelpunkt stehenden Familie. Die sind alle seelisch beschädigt, von geringer Geselligkeit und wenig einnehmend. Das ist von der künstlerischen Konsequenz her nicht einmal falsch, nur erschwert es die Identifikation. In wen will man sich innerhalb eines Panoptikums von Arschlöchern schon hineinversetzen?


Am kritikwürdigsten scheint mir aber, dass die Sollbruchstelle des Filmes, an der er sich vom grausigen Familiendrama sichtbar zum übernatürlichen Horrorschocker wandelt so ausgefranst ist. Mit diesem Übergang hätte man sehr viel mehr erzielen können, wenn man ihn nicht – man beachte ich nörgele hier auf sehr hohem Niveau – so wischiwaschi gestaltet hätte. Man hat, ganz offen gesprochen, auch nicht den Eindruck, dass Ari Aster die übernatürlichen Horrorelemente in dieser Phase mit annähernd der gleichen Sorgfalt und Kenntnis gestaltet, wie alles andere, das voranging. Diese Abstriche sind vorhanden, sie sind auch nicht zu verschweigen, sie können aber den extrem starken Gesamteindruck nicht im Mindesten schmälern.


Ari Asters „Hereditary“ ist ein Film, der gar nicht die Absicht hat, dem Zuschauer wohlige Schauer über den Rücken zu jagen, ihn schaudern und frösteln zu lassen. Dieser Film ist darauf ausgelegt den Betrachter tatsächlich innerlich zu beunruhigen, zu verstören. Sein Ziel ist blankes Entsetzen. Er verwendet das Unterbewußtsein seines Publikums mit maximaler Kaltblütigkeit gegen es selbst. Dieser radikale Ansatz geht so stark auf, dass die massiven Vorschusslorbeeren die der Film zum Deutschlandstart bereits mitbrachte, durchaus gerechtfertigt sind. Nur: Es ist nicht ein Film für Jedermann und Jederfrau. Und das wird er auch nie sein.


Ein Filmset wie eine Puppenstube
Das wiederum hat mit der erwähnten Hybrid-Natur zu tun. Und dieses Phänomen wird sich in Deutschland möglicherweise noch stärker abbilden als in den USA, wo es zwischen den Kritikerbewertungen und dem Zuschauerranking erhebliche Diskrepanzen gab. Es lässt sich im Grunde ganz simpel erklären: Ein großer Teil des Publikums das heute in Horrorfilme geht, kennt die Klassiker nicht und wenn es sie kennt versteht es sie nicht, weil ihr Geschmack verändert, verdorben worden ist. Der durchschnittliche Zuschauer heute (in erster Linie aber keineswegs nur: Der junge Zuschauer) hat eine Aufmerksamkeitsspanne von knapp 2 Minuten, er ist trainiert/dressiert von der Regie ständig an der Hand genommen zu werden – wenn er Schritte ohne fremde Hilfe machen soll, wird er unsicher, er ist ein inhaltliches und visuelles Dauerfeuer gewohnt, und schaltet satt ab, wenn ihm der gewohnte Splatter und die gewohnte Dichte an Jump Scares versagt werden. Dieser Teil des Publikums wird mit der Langsamkeit der Erzählung und dem sorgfältigen Vorlauf Probleme haben – aber die letzten 30 Minuten um so mehr lieben.

Ein großer Teil des Publikums wiederum, das heute in arthouse Filme geht (in erster Linie aber keineswegs nur: Der Zuschauer im gehobenen Alter) betrachtet Film prätentiös und ausschließlich unter Kriterien künstlerischer Ästhetik, er wird schnell gelangweilt wenn man ihn nicht originär überrascht, klassischem Horror- oder überhaupt Genrekino steht er gern mit Verachtung und Herablassung gegenüber. Er wird den Aufbau des Filmes, das unkonventionelle Drama lieben, aber den Schluss wiederum hassen.

„Hereditary“ übersteigt den Horizont beider Publikumsgruppen, die hier sicher leicht polemisch überzeichnet sind, bei weitem.
Daher ist die Spaltung der Meinung ganz natürlich. Es muss sie geben.


Der Idealzuschauer von „Hereditary“ ist der jemand der gutgemachtes arthouse-Kino genau so schätzt wie gutgemachtes Genrekino, der weder zur Avantgarde noch zum Mainstream Berührungsängste hat, eventuell oder idealerweise darüber erhaben ist Film in derlei willkürliche Kategorien einzuteilen. Ein Allrounder mit hoher Aufmerksamkeitspanne, der als Zuschauer gern gefordert sein will, eine hohe Imaginationskraft hat und sich auf eine Erlebnisreise ins Herz der Finsternis einlassen kann und will.

Und...äh...nicht viel Schlaf braucht.

Definitiv ungeeignet ist dieser eindrucksvolle Streifen, mit einem Satz, für Menschen, die, wenn sie heute Spielbergs „Der weiße Hai“ von 1975 sehen, nicht mehr sagen können als „Wann segt ma an endlich den Hai do? Des is ja voi langweilig“
Er ist für diejenigen von uns, die, wenn sie nachts wachliegen und die Dinge Schatten werfen, sich fragen ob der Wandhaken dort wirklich nur ein Wandhaken ist oder nicht doch eine 20 cm lange Kreuzspinne mit schwarzbehaarten Beinen, pulsierenden Augen und vibrierenden Fängen die darauf warten sich in unser Fleisch zu schlagen.



FAZIT:  Virtuos inszeniertes Meisterstück des Kinos der Angst. Zutiefst verstörend, großartig gespielt und beinhart. Dieser Film kriecht einem ins Unterbewußtsein und - bleibt - dort.