Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Donnerstag, 19. Januar 2017

JUDGMENT AT NUREMBERG, TV-FASSUNG 1959 (Link zum kompletten Film)


An dieser Stelle war ursprünglich das Video zum kompletten Fernsehspiel "Judgment At Nuremberg" von 1959 aus der TV-Reihe Playhouse 90 verlinkt, das sich nach wie vor als Privatkopie in meinem Besitz befindet. Aufgrund einer Beschwerde von MGM wurde das Video nach mehreren Monaten überraschend von youtube gelöscht, ich wurde scharf verwarnt. Der Gag an der Sache: MGM hält überhaupt nicht die Rechte an dem Fernsehspiel sondern nur am Kinoremake. Das Fernsehspiel das vor dem Posting 22 Jahre lang verschollen war , da es nicht mehr kommerziell ausgewertet wird & wird nun für die Öffentlichkeit weiterhin nicht mehr zugänglich sein. Mittlerweile scheint man bei youtube seine Hauptaufgabe darin zu sehen klassisches Filmmaterial das nicht nicht mehr käuflich erwerblich ist zu unterdrücken. Ich bedauere diese Entwicklung. 



Meine Suche dauerte volle 22 -ZWEIUNDZWANZIG- JAHRE! Wenige wissen: „URTEIL VON NÜRNBERG“ von Stanley Kramer 1961 mit Starbesetzung inszeniert - war ein REMAKE! Das Original zum legendären Gerichtsdrama mit Spencer Tracy, Maximilian Schell, Judy Garland und Burt Lancaster entstammte der Anthology Serie „Playhouse 90“ und war nur 90 Minuten lang. Die Liveausstrahlung erfolgte am 16. April 1959. MAXIMILIAN SCHELL spielte bereits den Strafverteidiger der hier noch Otto Rolfe und nicht Hans Rolfe hieß. Die Rolle wiederholte er, deutlich weiterentwickelt, 1961 auf der Großleinwand und gewann dafür als erster und einziger deutschsprachiger Schauspieler der Tonfilm – Ära den Oscar als Bester Hauptdarsteller. Richter Haywood wurde hier gespielt von Claude Rains, der Staatsanwalt Parker von Melvyn Douglas, der Angeklagte Ernst Janning vom deutschstämmigen Oscarpreisträger Paul Lukas, „Die Wacht am Rhein“. Regie führte GEORGE ROY HILL , späterer Oscarpreisträger für „Der Clou“ 1973, das Drehbuch stammte bereits von ABBY MANN, der für die Kinofassung den Drehbuch – Oscar erhielt. Die Anmoderation übernimmt hier kein Geringerer als Telford Taylor, einer der realen Chefankläger des Kriegsverbrecherprozesses von Nürnberg.

Diese Fassung ist, auch durch die Kürze, radikaler, simplifiziert etwas mehr, ist jedoch wie der Kinofilm von 1961 exquisit gespielt. Maximilian Schell steht regelrecht unter Strom und Claude Rains ist als Richter fast so stark wie Tracy, auch wenn er viel weniger Screentime hat. Dadurch, dass es sich– von den MAZ Einspielern aus Originaldokumentationen abgesehen – um eine wie eine Theateraufführung am Stück durchgespielte Live – Übertragung handelt, aufgezeichnet im logistisch unfassbar komplizierten Multikamera –Verfahren , ist Vieles etwas roher, ungeschlachter, die production values sind natürlich deutlich geringer als beim Kinofilm. Dafür hat das TV Drama aber auch die flirrende Energie und Unmittelbarkeit einer Live-Darbietung. Absolutes Schmankerl: Die Originalfernsehwerbung von damals ist mit dabei, was für unfreiwillige Komik und perverse Kontraste sorgt. Ebenfalls noch erhalten: Bei der Ausstrahlung war auf Geheiß des damaligen Hauptsponsors, eines Gasherstellers, immer beim Wort „Gas“ in der Handlung des Films der Ton abgedreht, was seinerzeit einen Skandal auslöste.

Übrigens: Dass Fernsehspiele für die Leinwand neu verfilmt wurden, war in den 50igern, der Zeit des Live-Fernsehens, das oft kreativer und wagemutiger war als der Kintopp, durchaus nicht ungewöhnlich. Auch „Marty“, Oscar für den Besten Film 1955, „Die Tage des Weines und der Rosen“, „Die 12 Geschworenen“ und „Licht im Dunkel“ waren zuerst Fernsehspiele, die beiden letzteren wurden in der Folge – wie übrigens auch „Urteil von Nürnberg“ – zusätzlich für die Bühne adaptiert.

FAZIT: Auch wenn der 11-fach Oscar-nominierte Kinofilm klar besser und reifer ist, bleibt die TV Version von 1959 ein elektrisierendes, großartig gespieltes Stück Fernsehgeschichte, das Ehrfurcht verdient.

Mittwoch, 18. Januar 2017

TONI ERDMANN (2016) VON MAREN ADE



Ein Film erhält in Cannes im Kritikerspiegel die Durschnittswertung von 3,8 von 4 Punkten – die höchste Wertung in der Geschichte der Filmfestspiele von Cannes – und gewinnt dann keine der neun Auszeichnungen?

Das muss ein deutscher Film sein. Richtig. Und WAS für einer!


Bei den Filmfestspielen von Cannes sorgte „Toni Erdmann“ diesen Sommer für eine Sensation. Zunächst nur als Beitrag in der Reihe „Un Certain Regard“ gedacht und buchstäblich über Nacht in den offiziellen Wettbewerb aufgenommen, schlug der Film, der erste deutsche Beitrag seit fast einer Dekade, ein wie eine Bombe, erhielt nicht nur rauschende Standing Ovations (siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=VktOPzGtPWQ) , sondern auch, in Cannes nie zuvor geschehen, mehrfachen spontanen Szenenapplaus. 

In Cannes dennoch bei allen Hauptpreisen völlig übergangen, begann der erstaunliche Film einen Siegeszug: Er gewann den Kritikerpreis der Filmfestspiele von San Sebastian, den renommierten Preis der New Yorker Filmkritiker, Drei Auszeichnungen auf dem Filmfestival von Brüssel; Preise für den Besten Auslandsfilm, die beste Hauptdarstellerin und die beste Regie der Filmkritiker von Toronto, sowie gleich 5 europäische Filmpreise (Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Hauptdarstellerin. Siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=Z-aQtF5piMI ) – auch das gelang noch keinem deutschen Film zuvor. Die beiden bedeutendsten Filmkritikerpublikationen der Welt „Cahiers du Cinema“ und „Sight and Sound“ nennen ihn in ihren Top Ten Listen für 2016 mit weitem Abstand auf Platz Eins.“Toni Erdmann“ ist nominiert für den Golden Globe als Bester Auslandsfilm, und auf der Shortlist für den Oscar in derselben Kategorie. Da geht noch was…

Worum es geht: Winfried Conradi (Peter Simonischek) ist ein sensibler Musiklehrer und Alt-68er mit Hang zu infantilen Scherzen, der mit seinem alten Hund zusammenlebt. Seine Tochter Ines (Sandra Hüller) hingegen ist das Gegenteil: Als ehrgeizige Unternehmensberaterin in einem brutalen Business reist sie um die Welt, um die Karriereleiter, immer entseelter, nach oben zu klettern. Vater und Tochter sehen sich daher fast nie, aber das wird schlagartig anders, als Winfrieds Hund stirbt und er daraufhin beschließt, Ines, wie zuvor im Scherz angekündigt, bei der Arbeit in Bukarest zu besuchen. Wegen der Unvereinbarkeit der beiden Lebensentwürfe kracht es schon bald zwischen den Beiden. Der Überraschungs- Besuch endet im Desaster. Als Winfried bemerkt, dass Ines in Wirklichkeit zutiefst unglücklich und verzweifelt ist, verwandelt er sich, um sie zu retten, mit falschem Loriot-Gebiss und langer Billigperücke in ein anarchisches Alter Ego , Personalcoach „Toni Erdmann“ , wahlweise auch „Ambassador Erdmann“, und beginnt ihr Leben aufzumischen. Aber so richtig….

Mag man zu Beginn des Films noch denken, man bekomme hier einen Film in typischer deutscher TV-Ästhetik serviert, ohne kinogerechte Bildsprache, so wird sehr schnell klar, dass es sich um Absicht in einem bis auf den Punkt durchdachten ästhetischen Konzept handelt. Keine künstliche Bildgestaltung, zurückhaltender Schnitt und eine Schauspielführung die ein so hohes Niveau an Unverfälschtheit und Natürlichkeit erreicht, dass der Spielvorgang komplett unsichtbar wird – all das spielt zusammen um dem Zuschauer keinerlei Raum zur Distanzierung zu lassen. Der Betrachter soll vergessen, dass er betrachtet, sondern regelrecht (mit-) erleben. „Toni Erdmann“ leistet das – und mehr.
Mit den Mitteln einer bizarren, scharfen Komik entlarvt der Film, in Szenen, die gerade die unerträglichen, peinlichen Momente des Lebens in einer so extrem zugespitzten und schonungslosen Weise ausleuchten, dass man streckenweise schallend lacht, und streckenweise kaum hinsehen kann (aber auch nicht wegsieht, fühlt man sich doch den Figuren nah, als stünde man direkt im selben Zimmer), unsere pervertierte Leistungsgesellschaft die menschliche Wesen zu Nützlichkeitsfaktoren erniedrigt. Vergeblich wartet man auf die gewollte bleierne Schwere klassischer deutscher arthouse Filme, auf das geraunte, bedeutungsschwangere Gefasel des deutschen Durchschnittsdramas. „Toni Erdmann“ der mühelos über seine komplette Laufzeit trägt ist stets spritzig, frisch, überraschend und sogar in seiner Härte federleicht. Am ehesten könnte man Maren Ades couragiertes Werk als ein erfrischendes „Packerl Watschen“ der emotionalen und intellektuellen Art beschreiben.

Unmöglich zu übersehen mit welcher Exaktheit, welcher punktgenauen Präzision die Handlung ausgearbeitet und gebaut ist, auch wenn Vieles so ehrlich gespielt ist, das es wie improvisiert wirkt. Man sieht die Handschrift einer glänzenden Minimalistin. Es ist ein Film in dem es nicht einen einzigen falschen Ton gibt. Alle Details stimmen, bis zu Kleinigkeiten, z.B. Winfrieds herrlich falschem Englisch. Beachtlich wie gelassen sich Ade Zeit für Momente nimmt, sie stehen und nachwirken lässt, den stillen Prozessen in den Herzen und Hirnen der Darsteller zusieht. Auch dadurch wird der Film über weite Strecken zur emotionalen Achterbahnfahrt. Auf Englisch würde ich sagen: she creates room to let those things said and unsaid linger in everyones imagination. Regelrecht kühn viele Einfälle (Stichwort spontane Nackt-Party, Stichwort „Whitney Schnuck“, Stichwort „Petit Fours“- Szene). „Toni Erdmann“ ist ein Film der über seine gesamte Laufzeit niemals auf Nummer Sicher spielt, sich einen Kehricht um guten Geschmack , um Seherwartungen scheißt, in allen künstlerischen, inszenatorischen Entscheidungen, wie im Inhalt selbst, alles auf eine Karte setzt und bis zum Ende des Abspanns volles Risiko fährt. Das führt entweder zur totalen Katastrophe oder zum Triumph. In diesem Fall, sagen wir es offen, ist es ein Triumph.

Das liegt auch an der durchwegs glänzenden Besetzung, aus der, naturgemäß die beiden Hauptdarsteller herausragen. Sandra Hüller spielt umwerfend, mit einem Mut zur Selbstentblößung, zur darstellerischen Ehrlichkeit, der einem fast an die Gurgel geht. So ungeschützt lassen sich selbst die besten Schauspieler selten auf eine Figur ein, weil es schwierig und gefährlich ist. Hüller zeichnet ihre Figur mit einer schier unbegrenzten Bandbreite an Nuancen. Sie findet die Stellen, in dem kalten Menschen, der Ines geworden ist, die ihn liebenswert und sympathisch machen. Selten konnte man sich so im Gesicht eines Menschen auf der Leinwand verlieren. Nicht minder großartig die erstaunliche tour de force die der gelegentlich ans TV verschwendete Burgtheater-Mime Peter Simonischek als Winfried Conradi/Toni Erdmann abliefert. Welten spielen sich ab hinter diesen Augen, und er nimmt einen in jede Einzelne davon mit. Grandios wie er die Oneliner präzise, geschliffen und doch wie zufällig raushaut, wie er die Überforderung seiner Figur sichtbar macht, wie er sich und die Figur(en) die er spielt, in aller Verletzlichkeit bis ins Allerinnerste, bis zum Anschlag öffnet.

Man könnte diesem Duo, das hier Tennis der Gefühle vom Allerfeinsten miteinander spielt, unbegrenzt dabei zusehen. Auch deshalb wirkt der Film nie so überlang, wie er objektiv betrachtet ist, auch deshalb fallen manche Wiederholungen nicht ins Gewicht, und auch deshalb vermisst man nie eine stärkere Struktur und Formgebung durch die Regie.

Dass der Film auch spaltet und einen Teil des Publikums verprellt liegt dabei natürlich auch in der Natur der Sache. Er ist so risqué und so zugeschnitten auf ein spezifisches Publikum, mit einem spezifischen Geschmack, spezifischen Fähigkeiten Film und Darstellende Kunst „zu lesen“, einer speziellen Sensibilität die den Zugang ermöglicht, dass ein Teil des Publikums außen vor bleibt und, aus seiner Sicht völlig zurecht, nichts damit anfangen kann. Dies zuzulassen war eine bewusste Entscheidung der Drehbuchautorin und Regisseurin, und sie wird mit den entsprechenden Reaktionen leben müssen.

„Toni Erdmann“ ist ein weniger Film als Erlebnis, er geht dorthin wo es wehtut, und bleibt dort, bis man darüber lachen muss. Einer der besten deutschen Filme der letzten Jahrzehnte, einer der einem lange im Gedächtnis bleibt. Einer der bewirkt, dass man beim Abspann baff sitzen bleibt und sich aufs Neue in „Plain Song“ von The Cure verliebt.
(Siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=YSaNXpD49Qw)

Fazit: Absolut waghalsige, hochoriginelle und extrem extravagante Melange aus bizarrer Gesellschaftssatire und intensivem Vater-Tochter-Drama, rasiermesserscharf inszeniert. Von Simonischek und Hüller umwerfend und mit grenzenlosem Mut gespielt.

VORAB-KINOTIPP: „VERLEUGNUNG (2016)“ (OT: „Denial“) - BEI UNS AB APRIL 2017



"Redefreiheit bedeutet, dass jeder sagen kann, was er will. Was man nicht kann, ist lügen und erwarten nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Nicht alle Meinungen sind gleich. Und einige Dinge haben sich nun einmal zugetragen, so wie wir sagen, dass sie sich zugetragen haben. Die Sklaverei hat stattgefunden. Der schwarze Tod hat stattgefunden. Die Erde ist rund und die Eiskappen schmelzen und Elvis ist nicht am Leben.“                            PROF. DEBORAH LIPSTADT

„Sie werden euch niemals glauben, was wir euch angetan haben“
                        KZ-WÄCHTER zu SIMON WIESENTHAL, kurz vor der Befreiung von Mauthausen.

Mitte der 90iger Jahre: In ihrem Buch „Denying The Holocaust“ bezeichnet Geschichtsprofessorin Deborah Lipstadt (Rachel Weisz) ihren vormaligen Kollegen und jetzigen Aktivisten David Irving aufgrund dessen Leugnung des Holocaust als Lügner und Geschichtsfälscher. 1996 verklagt daraufhin Irving (Timothy Spall) Lipstadt und ihren Verleger Penguin Books wegen Verleumdung. Raffinierter Twist: Irving reicht die Klage in London, England ein. Aufgrund des andersartigen Rechtssystems ist dort die Beweislast in solchen Fällen umgekehrt. Lipstadt, ihr Anwalt Julius(Andrew Scott) und ihr Straftverteidiger, der brillante Richard Rampton (Tom Wilkinson), müssen daher gerichtsfest beweisen dass Irving tatsächlich ein Lügner ist – und dass es den Holocaust wirklich gegeben hat. Fast unerträglich für die aufbrausende Lipstadt ist die Strategie ihrer Verteidiger: Sie selbst darf zur Klage nicht sprechen. Vier Jahre lang.....

„Denial“, deutsch „Verleugnung“ basiert auf dem Sachbuch „History On Trial: My Day In Court With A Holocaust Denier“ und den Gerichtsprotokollen. Das Drehbuch stammt vom preisgekrönten britischen Dramatiker David Hare, Regie führte Mick Jackson.

Hier einige aufschlussreiche Interviews mit den Mitwirkenden:

https://www.youtube.com/watch?v=WG3qX4ZpPgk Spall Interview

https://www.youtube.com/watch?v=6MvlC5I0ktI Jackson & Hare Interview

Gelungen ist ein starker, packender und - ohne Betroffenheitsbilder - erschütternder, zum Nachdenken anregender Film. Besonders klug und sensibel wird beleuchtet, wie schwer es für eine leidenschaftliche Historikerin wie Lipstadt war, in dem wichtigsten Prozeß ihrer Karriere weder gegenüber dem Gericht noch den Medien sprechen zu dürfen, während Irvings Propaganda ungefiltert in die Öffentlichkeit weitergetragen wurde; insofern liefert der Film auch die Studie einer Selbstverleugnung im Dienste der guten Sache. Er zeigt aber auch die Mechanismen der Holocaust – Leugnung auf, und entlarvt die Agenda der Leugner. Diese Leistung wird noch verstärkt, dadurch dass es David Hare , in seinem exquisit recherchierten Skript, gelingt, sehr reale, nuancierte, vielschichtige Figuren zu schaffen – weder wird Irving zum Monster par excellence stilisiert (so monströs seine Ansichten auch sind) noch Lipstadt zur reinen Heroin verklärt (sie wird als, sagen wir, überdurchschnittlich temperamentvoll, partiell zickig, und manchmal zu ich-bezogen gezeigt. Die echte Lipstadt stimmt diesem Porträt ihres jüngeren Ichs übrigens durchaus augenzwinkernd zu). Die Dialoge sind hervorragend, die Inszenierung absolut dicht und es gelingt dem Film durchweg die Grundspannung aufrecht zu halten. Cannes- Preisträger Timothy Spall als Irving und Oscarpreisträgerin Rachel Weisz als Lipstadt spielen hervorragend, Letztere, für eine Britin bemerkenswert, sogar mit waschecht klingendem Brooklyn-Akzent. Andrew Scott, der Moriarty aus „Sherlock“ glänzt als Anwalt Anthony Julius. Am beeindruckendsten allerdings ist die feinsinnige von großer Reife und tiefem Ehrgefühl getragene Darbietung des (wiedereinmal) Oscarreifen Tom Wilkinson als Lipstadts Verteidiger Richard Rampton, die in den - viel zu wenigen – Gerichtssaalszenen eine Wucht erlangt, die Gänsehaut erzeugt.

Das einzige Manko des packenden Films ist denn auch tatsächlich, dass er zwar das Drumherum des Prozesses gekonnt und in all seinen Facetten perfekt einfängt uns aber von der Verhandlung selbst viel zu wenig zeigt, obwohl es hier an faszinierendem Material keineswegs gemangelt hätte. Möglicherweise fehlte es Dramatiker Hare hier einfach an Traute. Besonders unbefriedigend ist dies, weil eben gerade die Gerichtssaalszenen, die enthalten sind, und zwar im WORTLAUT, außerordentlich gelungen sind.
Positiv hervorzuheben ist, dass es „Denial“ auf äußerst subtile Art und Weise gelingt einen profunden und sehr eindeutigen Kommentar zu unserem postfaktischen Zeitalter abzugeben. Wie Lipstadt es im Eingangszitat sagt, „not all opinions are equal“. Dieser Aspekt macht „Denial“ wohl zu einem der bedeutendsten und wichtigsten Filme der letzten Jahre – davon zeugen leider auch die außerordentlich vielen paranoiden und hasserfüllten Kommentare die das Werk online bekommt, viele davon auch in deutscher Sprache. Bedauerlich auch dass ein großer Teile der Kommentare Prof. Lipstadt persönlich in hochverleumderischer Weise angreift. In einer Gesellschaft die einen Rechtsruck erlebt, wird wohl auch Holocaust – Leugnung in leichten, rechtsdrehenden Tänzelschritten wieder en Vogue. Erschütternd.

Hier eine glänzende Video- Review:
https://www.youtube.com/watch?v=WpfAes701cw

„DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI (1988)“ – EIN FILMKRITISCHES DUETT MIT WALTER JENS


Das Jahr 1988 bescherte der Filmgeschichte ihren vielleicht größten Skandal. Martin Scorseses Herzensprojekt „Die letzte Versuchung Christi“ kam in die Kinos, löste aber bereits zuvor Proteste aus, einige davon gewalttätig. Die Adaption von Nikos Kazantzakis in den 50iger Jahren publiziertem Roman „Die letzte Versuchung“ präsentierte einen zwischen menschlichem und göttlichem Ich völlig zerrissenen Jesus, der seine Mission nur unter großen Opfern zuwege bringen kann. Diese radikale Neuinterpretation des Mythos Jesus von Nazareth ging weiten Teilen der Öffentlichkeit zu weit – auch ohne den Film gesehen zu haben. Es hagelte Demonstrationen, Anzeigen wegen Blasphemie, Martin Scorsese und Hauptdarsteller Willem Dafoe erhielten Todesdrohungen in 10 000er Auflage, in Frankreich wurde sogar ein Kino in die Luft gesprengt – von christlichen Fundamentalisten.

In diese Stimmung hinein veröffentlichte am 11. November 1988 die Wochenzeitung DIE ZEIT eine Pro und Kontra Debatte über den Kinofilm zwischen Ulrich Greiner und Walter Jens. Eigentlich war es sogar eine Kontra und Kontra Debatte, denn beide Rezensenten verachteten den Film. Bemerkenswert war hier die damals - wie zum Teil auch heute noch - übliche Unsitte, Literaturkritiker zu Filmkritikern zu erklären, obschon es sich bei Film und Literatur um völlig unterschiedliche Medien handelt, die ohne das jeweils entsprechende fachliche Handwerkszeug, kaum vernünftig einzuschätzen sind.

Als ich nachfolgenden Text von Walter Jens vor Jahren erstmals las, hatte ich trotzdem hohe Erwartungen. Auch wenn Jens der Film, den ich persönlich positiv einschätze, wie ich bereits vorab wusste, nicht überzeugt hatte, war ich gespannt auf seine sicherlich komplexen, denkanregenden Argumente, seine tiefgehenden Überlegungen und Kritikpunkte. Ich freute mich auf den intellektuellen Input. Immerhin verfügte der Schriftsteller, Altphilologe und Kritiker über eine hohe Reputation. Umso beschämender und bestürzender war, was ich dann lesen musste. Man mochte teilweise kaum hinsehen. In der Folge erlaube ich mir, als Filmhistoriker und geschulter (jedoch keinesfalls berühmter) Kritiker der ich ja auch bin, Jens‘ Kritik aus dem Jahre 1988 (kursiv) nahezu Satz für Satz kritisch zu durchleuchten (normaler Fließtext). Erstmal aber gebe ich das Wort ab – an ….


….. WALTER JENS:



„Tage und Nächte gingen dahin, ein Mondwechsel glitt vorüber, ein zweiter stieg auf, Regen und Kälte, ein flammender Herd, heilige Nachtwache im Haus der alten Salome, jeden Abend kamen nach der Tagesarbeit die Armen und Leidenden aus Kapernaum. Sie hatten von dem neuen Tröster reden hören, arm und ungetröstet erscheinen sie, reich und getröstet kehrten sie in ihre kleinen Hütten zurück. Er verpflanzte ihre Weinberge, ihre Boote und Freuden von der Erde in den Himmel, er erklärte ihnen, wieviel sicherer der Himmel ist als die Erde, und die Herzen der Unglücklichen wurden mit Geduld und Freude erfüllt“:Eine Passage aus Nikos Kazantzakis’ Roman „Die letzte Versuchung“, ein Abschnitt aus jenem umstrittenen Buch, das die katholische Kirche, unter Anführung des Papstes, es war Pius XII., auf den Index gesetzt hat.


Umstritten zu Recht, aber keineswegs, weder ästhetisch noch theologisch, eines Verbots würdig. Kazantzakis macht mit Jesu Menschsein Ernst, läßt ihn, der nach der Formel des Konzils von Chalcedon Gott und Mensch in eins war, einen Sohn der Welt sein – einen, der liebt, trauert, sich an irdischen Dingen erfreut, Verkehr mit einer Frau hat, einen Sohn zeugt – und doch immer der „Andere“ bleibt: ein Auserwählter, den die Dämonen und Gesichte verfolgen, ein Mann auf der Suche nach der Identität, ein Frommer, der mit Gott ringt, seine Aufgabe erfüllt und preisgibt – immer im Zwiespalt, immer an der Grenze von Demut und Trotz. „Wer ist Gott?“ und „Wer bin ich?“ sind für Kazantzakis Jesu Fragen, die untrennbar zusammengehören.

Der Roman von Kazantzakis
Und so geht er dann, an der Grenze von Himmel und Hölle, seinen Weg, dieser Mann, spricht mit den Sonnen und Sternen, die ihn begleiten, schaut das heilige Jerusalem und das sündige Tiberias, zitiert Psalmen, zieht seine Bahn in den Spuren der Väter, wird verfolgt und gemartert – und erlebt, schon ohnmächtig, am Kreuz die letzte Versuchung, die ihn vom Balken in ein Paradies führt, das ihm der Teufel, in Gestalt eines Schutzengels, erschließt: „Viele Engel hatte er im Schlaf und im Wachen gesehen, einen solchen Engel nie! Welche warme, menschliche Schönheit! Welch weicher Flaum auf Wangen und Oberlippen! Die Augen glänzten verführerisch, voller Feuer wie die einer verliebten Frau, eines verliebten Jungen. Der schlanke, feste Leib und die Beine bis zu den runden Lenden waren von einem lockigen, blauschwarzen Flaum umgeben, und die Arme verbreiteten den geliebten Duft eines Menschen.“

Der Engel, der Teufel: mit gewaltigen Schwingen das Weltall durchfliegend, den vom Kreuz Erlösten einhüllend, über die Erde schwebend, dann sich in ein weißes Pferd verwandelnd, ein Wunderwesen, das dem in den Fittichen geborgenen Mann die Schönheit der Welt zeigt, mitsamt ihren tausend Freuden, der Hoffnung und Sinnlichkeit, dem sanften Umgang unter den Menschen, der Leidenschaft und der Behutsamkeit: „Jesus wandte den Kopf. Weit vorn leuchtete Nazareth in der aufgehenden Sonne. Die Stadttore waren geöffnet ... und Tausende von Menschen ... ritten auf weißen Pferden und über ihnen wehten schneeweiße Seidenfahnen mit goldenen Lilien. Sie kamen die blühenden Berge herab ... ritten über Flüsse, und man hörte unter den dichten Bäumen einen fröhlichen Lärm von Gelächter, den leichten Gesprächen und lieblichen Seufzern.“

In einer gewaltigen Vision teilt der zum Leben Erweckte die Freuden der Welt und erkennt seinen Irrtum – immer unter den Himmeln war er gewesen und nie, bescheiden und freundlich, ein Anrainer des grünen Galiläas oder ein Fischer am Jordan, Gottes „königlichem Wasserweg“.


Aber die Erkenntnis ist Eingabe des Teufels, jedenfalls behaupten das Jesu Gegenspieler: Paulus, der Sein Werk fortsetzen möchte und dafür Christus braucht und keinen Nazarener: und Judas, der Rotbärtige, ein Gegenspieler von Anfang an.
Und so kehrt der Befreite an sein Marterholz zurück und schickt sich ins Sterben: zum definitiven Ende? Zum Neubeginn? Kazantzakis’ Buch endet mit einer Frage; der Kampf zwischen Diesseits und Jenseits endet remis – ästhetisch plausibel und theologisch konsequent. „Die letzte Versuchung“, ein interessantes und problematisches Buch: gelegentlich sentimental, allzu naturalistisch bei der Präsentation des Menschen Jesu, überzeugend dagegen in den visionären Passagen, die einen griechischen Legendenbildner bei der Arbeit zeigen, der sich auf die Verallgemeinerung christlicher Mythen versteht.



Sehr interessanter Einstieg mit dem Verweis auf Katzanzakis' Roman und dem Auszug daraus, aber
Nikos Kazantzakis
viel zu viel und zu lang. Jens bespricht hier den FILM nicht die ROMANVORLAGE. Das Hauptproblem der folgenden Filmbesprechung besteht (abgesehen von dem Umstand, dass sie keine ist) darin dass Jens das nicht weiß. Und in die klassische Anfängerfalle des primitiven 1:1 Vergleichs von Film und Buch geht, und damit eine Perspektive einnimmt die kein professioneller Filmkritiker hier je einnehmen würde. Und schon hier, in der Einleitung, wo nur über den Roman gesprochen wird verfällt Jens in reine Behauptungsstatements ohne diese Feststellungen zu begründen. Auch dieser Anfängerfehler, zieht sich später durch die ganze, sagen wir ruhig „Filmbesprechung“, und macht aus ihr so eine reine Polemik statt einer Kritik.


Und dagegen nun der Film „Die letzte Versuchung“ – eine barbarische Bearbeitung: grob, plump, oberflächlich



So darf er den Film natürlich finden. Nur müßte er es dann auch begründen.


und jener Dialektik bar, die „den einen und denselben“ in seiner Zwienatur zeigen könnte. Jesus von Nazareth ist zu einem wild gestikulierenden Rambo geworden:


"Rambo" seit den achtziger Jahren sprichwörtlich für einen Raufbold, geht auf die Figur des John Rambo zurück, die Sylvester Stallone zuerst in "First Blood" (1982), der Verfilmung eines Romans von Literaturprofessor David Morrell, spielte. Diese Figur war ein Vietnamveteran der nach Demütigungen durch einen Kleinstadtsheriff durchdrehte und eine Guerillakrieg mitten in den USA ausfocht. Inwiefern passt das auf Martin Scorsese's Jesus, der im Film nicht in einen einzigen Fight verwickelt ist? Gar nicht. Der Ausdruck, der in dieser "Kritik" noch öfter vorkommt muss für Jens für eine Mentalität stehen, die er mit den USA verbindet und in einem US Film natürlich auch sucht, solange bis er sie findet, auch wenn sie gar nicht da ist.


am liebsten in action,


Hier spinnt sich das projizierte Vorurteil weiter. Actionszenen, d.h. Szenen des Kampfes, der Verfolgung, der großen physischen Kraftanstrengung zur Spannungssteigerung gibt es im Film nur an zwei Stellen (Am Anfang als Zeloten einen Unschuldigen vor der Kreuzigung retten wollen, und bei der kriegerischen Auseinandersetzung im Tempel). Diese beiden Stellen machen zusammen nicht einmal 5 Minuten bei 160 Minuten Laufzeit aus. Aber für Walter Jens, durchziehen sie den Film, sie sind der Film, weil seine Wahrnehmung sich durch seine Vorurteile verzerrt hat.


mit dramatischem Gesichtsausdruck, rollenden Augen, verzerrten Minen oder – eine Stelle von unfreiwilliger Komik – mit feixendem Lächeln.


Hier wird Literat und Literaturkritiker Jens plötzlich zum Schauspielfachmann - und hat keine Ahnung. Deswegen fixiert er sich, wie Amateure es tun, auf Äußerlichkeiten wie Gesichtsausdrücke - die er auch noch aus dutzenden verschiedenen Szenen zusammenklaubt und nett collagiert, statt auf den inneren Vorgang einzugehen den Willem Dafoe versucht hat darzustellen.


(Nach der Verwandlung des Wassers in Wein: „Gelt, da staunt Ihr, Leute“ markiert seine Mimik, „verflucht gekonnt, wie? Damit habt ihr wohl nicht gerechnet!“)


Das ist nicht unbedingt der Subtext den der Schauspieler Dafoe hier transportieren wollte, sondern nur der den Jens gelesen hat, vielleicht weil er es wollte. Solche unbelegbaren Subjektivitäten, oder geschmacklichen Beliebigkeiten, gehören aber nicht in eine Filmkritik - besonders wenn die Kenntnisse des Schreibenden über Schauspielkunst auf dem Niveau der Zuordnung unterschiedlicher Gesichtsausdrücke zurückgeblieben sind.


Jesus, der Star aus Hollywood, gestyled, geschminkt und in US-Mode gesetzt.



Der Satz ist eine Meisterleistung! Schier unglaublich wie viele objektive Faktenfehler Jens in die paar Worte packen kann. Zählen wir mal:


1. Jesus Christus hatte meines Wissens nie einen Hollywoodvertrag.

2. Willem Dafoe spielte erst seine dritte große Hauptrolle, alle 3 Filme ("Leben und Sterben in L.A", "Platoon" und "Die letzte Versuchung Christi") waren unabhängig finanzierte Autorenfilme. Alle anderen Arbeiten Dafoes bis dahin spielten sich im Independent Film Bereich und besonders im New Yorker Avantgarde Theater ab. Er war 1988 das genaue Gegenteil eines "Hollywoodstars"

3. Wir sprechen nicht von einem Hollywoodfilm. Er hatte kein Hollywoodbudget, wurde von Scorsese zur Hälfte privat finanziert, die andere Hälfte stammt von der unabhängigen Filmgesellschaft cineplex odeon; er wurde nicht IN Hollywood (oder auch nur den USA) gedreht, sondern in Marokko. Mit Ausnahme von fünf Schauspielern ist der Film nur mit Einheimischen besetzt. Der Film wurde ohne Aussicht auf finanziellen Erfolg gedreht, er wurde nicht daraufhin konzipiert. Er beruht auf dem Roman eines in Hollywood unbekannten griechischen Romanciers. Wir sprechen hier von einem unabhängig produzierten Film IM VERLEIH von Universal Pictures.

4. Gestyled ist Jesus in diesem Film nur, wenn man galiläische Garderobe als Stil brandmarken will.

5. Davon abgesehen: Gerade dem Film "Die letzte Versuchung Christi" übermäßiges Styling einer Figur vorzuwerfen, in dem aus Budgetgründen nicht einmal genügend Make Up Artisten zur Verfügung standen (so dass sich Barbara Hershey z.B. ihre Tätowierungen eigenhändig aufschminken musste) ist absolut verfehlt.

6. Schauspieler im Film muss man aus technischen Gründen schminken.

7. US Mode? Seit wann trägt man dort bitte Leinentoga, Sandalen und Dolche? Oder meint Jens hier den englischen Ausdruck wie in "in classic american mode" dann fehlt mir der Beleg. Oder muss ich da bis "Rambo" zurückblättern? Kann es so einfach sein?

Man darf annehmen, dass in diesem Satz aus dem Jens' horrendes filmisches Unwissen und fehlende Vorbereitung spricht, vor allem die Enttäuschung des Schreibers zum Ausdruck kommt, und zwar mittels Vorurteilen, dass der Jesus im Film NICHT aussieht wie im Buch (Eins zu Eins Vergleich) und - E Voila:


Blond natürlich, heroisch und männlich – kein hagerer Rabbi, der vierzig Tage lang fastet, und schon gar kein Jud, dem man die Herkunft aus Stall, Schul und Bethaus anmerkt.



Der blonde Willem Dafoe trägt sein Kreuz
Willem Dafoe war natürlich noch nie blond, sondern braunhaarig. So auch in diesem Film. Allerdings ist seine Erscheinung als Jesus, neben Robert Powell in Zeffirellis „Jesus von Nazareth“ und nach dem Pasolini-Jesus, deutlich eine der Semitischsten, am Deutlichsten dem Orient Verhaftetsten die bis dahin auf der Leinwand zu sehen waren. Ich halte weiter fest, dass wir nicht WISSEN wie Jesus aussah. Die Bibel verrät es nicht. Wir wissen, wie Kazantzakis sich Jesus vorgestellt hat. Jens auch, und er scheint entrüstet darüber dass das Erscheinungsbild mit dem Buch nicht genau genug übereinstimmt. Geht es eigentlich noch wesentlich engstirniger?


„Der Flaum auf seinen Wangen und um das Kinn war zu einem krausen schwarzen Bart geworden, die Nase war gebogen, die Lippen dick“: So jüdisch präsentiert sich Jesus von Nazareth bei Kazantzakis, schwarz, hakennasig und eher auf  Afrika als auf Kalifornien weisend.


Okay, es geht engstirniger. Ich halte wiederum fest: Es gibt keine Verpflichtung eines Filmemachers eine Figur haargenau so aussehen zu lassen wie in der Romanvorlage. Das sind Anforderungen die in professioneller Filmkritik nichts verloren haben, sie offenbaren eine erschreckende Naivität gegenüber dem Thema Literaturverfilmung. Warum zeichnet er nicht gleich noch eine Skizze? Willem Dafoe ist übrigens aus WISCONSIN, da weist nichts nach Kalifornien. Außer Jens Anti - Hollywood Vorurteilen womöglich - die hier ja auch noch einen unschuldigen Independent Film treffen.


Jesus, der Jud: undenkbar für Martin Scorsese. 



Proteste gegen den Film in den USA
Hier sind wir im Reich der Unterstellung. Durch die Formulierung unterstellt Jens, dass Scorsese Jesus (Jens' Meinung nach) optisch falsch aussehen lasse, weil er ihn falsch aussehen lassen will. Schlimmer noch: Weil er ihn nicht semitisch aussehen lassen will. Er insinuiert Scorsese habe hier eine antisemtische Besetzungspolitik verfolgt. Begründung? Belege? Argumentation? Fehlanzeige. Er glaubt zu wissen wie der Regisseur denkt, weil er so etwas einfach weiß. So bleibt die Unterstellung was sie ist: Die kleine Schwester des Vorurteils.

Dabei könnte man es belassen, wenn nicht hier nicht noch etwas Anderes eine Rolle spielen würde. Hätte sich Walter Jens, wie ein professioneller Filmkritiker es getan hätte, vorab mit dem Film, ich betone DEM FILM, ein wenig beschäftigt, und sich wenigstens rudimentär informiert, hätte er gewusst, dass Dafoe als Besetzung des Jesus erst beim Zweiten Drehversuch dazukam. Scorsese hatte schon Jahre zuvor versucht den Film, damals noch in Israel, zu drehen, was scheiterte als die Finanzierung ohne Vorwarnung völlig überraschend wegbrach. Ursprüngliche Besetzung: Aidan Quinn - dunkelhaarig und der Beschreibung im Roman deutlich ähnlicher. Die These: Scorsese wollte unbedingt einen unjüdisch wirkenden "Hollywood -Amerikaner" für die Rolle ist also auch von dieser Ecke her blanker Unsinn. Aber das konnte Jens, mangels Vorbereitung, natürlich nicht wissen.


Einen Kerl von Mannsbild läßt er durch die Wüste ziehen – einen Billy Graham, der zugleich, gestählt wie er ist, bei einer Olympiade mithalten könnte.


Ich weiß nicht ob Walter Jens die Ironie dieser Behauptung auffiel, aber ich fürchte nicht. Während hier nicht unbedingt zu interessieren hat, was wohl die Gruppe 47 zu einer so sinnwidrigen Tautologie wie "Ein Kerl von Mannsbild" gesagt hätte, halten wir doch einmal fest: Billy Graham ist ein ultrakonservativer US Fernsehprediger, der einer der entschiedensten GEGNER des Films war. Hätte aber, wie Jens, der auch dies offenbar nicht wusste, suggeriert, Graham in diesem Jesus ein Alter Ego seiner selbst erkennen können, hätte ihm das Werk ja schon aus Eitelkeit eigentlich zusagen müssen. Übrigens unterscheidet sich Grahams Rhetorik & Theologie so diametral von der des Filmjesus, dass die Wahl des Beispiels extrem verwundern muss. Vermutlich griff der scheinbar alles außer amerikabewanderte Jens einfach den ersten, vielleicht einzigen, Prediger auf, der ihm einfiel.



Trotzdem, das alles ginge meinethalben hin, wenn dieser unsägliche Mensch aus dem Traumbilderbuch „Wie stellt sich die Dame von Welt ihren Schwiegersohn vor“ nicht auch noch redete und, im Tonfall eines Fernseh-Predigers aus Massachusetts, jesuanische Gleichnisse vortrüge...



In dem Moment wo ich einen Schauspieler als "unsäglichen Menschen" bezeichne (und der Umstand, dass sich Jens in der Folge des Satzes ausschließlich auf Dafoes Äußeres , Ausstrahlung und Darbietungsweise bezieht, deutet eben darauf hin, dass er den Schauspieler meint und nicht die Figur) verlasse ich den Boden einer objektiven Filmkritik und gehe zur reinen Hetze über. Der Vergleich mit dem Fernsehprediger aus Massachusetts ist offenbar total willkürlich: es gibt (und gab auch 1988) keinen bekannten Fernsehprediger aus Massachusetts. Dafoe stammt nicht aus Massachusetts und Jesus, meines Wissens nach, auch nicht.


und das inmitten einer Welt, in der es ansonsten schlicht und herzhaft zugeht, wo man einen Satz mit den Worten beginnt „Um Mißverständnisse zu vermeiden“, wo die Kumpels rufen „Rück näher, Petrus will sich hinlegen“, wo man „Ich gratuliere Dir“ sagt oder „wir sehen uns wieder“ (see you later, boss), „Du bringst ihn in Verlegenheit“ oder „Meister, das mit Magdalena tut mir leid“, wo Jesus zu seinen Jüngern beim Abendmahl spricht: „Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen“, andererseits aber selbstbewußt genug ist, um sich auf einen so tiefsinnigen Satz einzulassen wie: „Das Fundament ist der Körper.“



Hier sind wir wieder in dem Bereich "Im Buch war das aber Anders". Tatsächlich befleißigt sich Drehbuchautor Paul Schrader einer anderen Dialogsprache als der Roman, und das, wie Jens den Quellen hätte entnehmen können, mit voller Absicht. Im Roman wird eine kunstvolle aber auch artifizielle Sprache benutzt, die, gelesen, ihre volle künstlerische Berechtigung hat, die aber gesprochen sehr künstlich gewirkt und vor allen Dingen den Zuschauer distanziert hätte. Um die Aussage Kazantzakis' "Wenn Jesus in seiner Menschlichkeit diese Zweifel und Versuchungen überwinden konnte, was alles bist Du selbst, lieber Leser, dann in der Lage zu erreichen?"filmisch zu erreichen, durfte es keine solche Distanzierung geben. Deshalb verankerte Schrader die Dialoge im amerikanischen Alltagsenglisch der Gegenwart mit allen seinen Akzenten. Warum amerikanisch? Weil es sich um einen amerikanischen Film für ein zunächst amerikanisches Publikum handelte.


Ist die Banalität schon peinlich, so ist’s das Pathos erst recht,

Was denn nun? Irgendwann muss man sich mal entscheiden.


vor allem, wenn im Stil einer Klippschul-Theologie über Leib und Seele, Fleisch und Geist orakelt wird.

Hier klammert Jens, hinter dem Deckmantel des schon 1988 nicht mehr gebräuchlichen und hier bildlich gebrauchten Begriffs der Klippschule (eine Art primitivste Dorfschule), völlig aus, das die Aussagen Jesu auf die hier angespielt wird, von einem Jesus getätigt werden, der verwirrt und verzweifelt über Gottes Plan, den er nicht begreift, zu einem bestimmten Zeitpunkt glaubt er müsse die Axt, die Gewalt, predigen, was er dann auch, vorübergehend, leidenschaftlich tut.


1988 : Aufführung von "Die letzte Versuchung Christi"
in  Österreich - unter Polizeischutz!
„Ich ertrage diese manichäistische Schnulze nicht länger“, rief hinter mir der katholische Theologe Norbert Greinacher aus und verließ – der Glückliche! – das Lichtspieltheater


Gravierender journalistischer Fauxpas: Jens nutzt, als Zitat, die Meinung eines unbeteiligten Außenstehenden als Beleg seiner eigenen Meinung in dieser Kritik. Noch schlimmer: Er bewertet die Meinungsäußerung des Außenstehenden auch noch, und zwar subjektiv im Sinne von Jens eigener Meinung, einer Meinung die dem Leser damit weniger direkt mitgeilt als manipulativ untergeschoben wird. Unfassbar, das hier nicht lektoriert wurde.


, während ich ausharren musste, bis zum bitteren Ende, dem Auftritt des Schutzengels, der sich,


Der Auftritt des Schutzengels mag für Jens bitter anmuten, er ist aber nicht das ENDE, danach kommen noch 35 Minuten, nämlich die titelgebende "letzte Versuchung"


anders als bei Kazantzakis, in der Form eines Mädchens vorstellte, das,



Und hier haben wir es wieder, dieses "anders als bei Kazantzakis", der mutmaßlich einzig wirkliche Kritikpunkt von Jens, der sich, meist versteckt, durch die ganze "Kritik" zieht. Hier sagt er es wenigstens offen.


kitschig-süß redend,


Diese Aussage hält schon oberflächlichster Überprüfung nicht stand - und ich spreche hier nicht vom hässlichen Partizip. In der deutschen Fassung, die Jens gesehen hat, wurde der Engel von Caroline Rupprecht gesprochen, der späteren Synchronstimme für die Rolle der Vanessa Huxtable in der "Cosby Show" - wo Rupprecht übrigens wegen ihrer besonders trockenen und unverkitschten Diktion und der klaren Stimme besetzt wurde. Falls Jens mehr auf den Text anspielt, den sie zu sprechen hat, müsste er Belege anführen. Stellen wie

JESUS: Ich muss nicht gekreuzigt werden?
ENGEL: nein.
JESUS: Ich bin nicht der Messias?
ENGEL: Nein. Nein, biste nicht.

stehen eindeutig für das absolute Gegenteil.


dem lieben Heiland den Weg ins Menschlich-Allzumenschliche wies. Ach, wär’ es doch dabei geblieben! Die erotischen Szenen – dies etlichen Frömmlern ins Stammbuch! – waren eher prüde als lasziv,

Hier wird uns eine Fehlinformation geliefert, den Jens spricht hier im Plural von "Erotischen Szenen", im Film gibt es aber nur EINE solche Szene. Die Szene mit Magdalena zu Beginn des Films hat keinen erotischen Charakter und spielt sich im OFF ab, zudem denkt man durch den von Jens hier aufgebauten Sprachzusammenhang keinesfalls an eine Szene zu Beginn des Films. Mit einem solchen Faktenfehler, an gerade dieser Stelle, untermauert und befeuert der Autor, wider besseren Wissens die Hetzkampagne gegen den Film.


ja, hatten geradezu Oasen-Charakter inmitten einer Wüste von Verlogenheit.



Erneut werden uns hier Vorurteile unter die Nase gerieben wenn von "Wüste der Verlogenheit" die Rede ist, zumal Jens weder hier noch anderswo in seinem Text belegt wo und inwiefern die Filmemacher oder das Filmwerk selbst verlogen, also unaufrichtig oder unehrlich sei. Übrigens auch nicht im Bezug worauf oder wem gegenüber? Oder meint Jens womöglich hier - immer noch - unaufrichtig gegenüber der Buchvorlage?


Da wußte man doch jedenfalls, woran man war, und konnte sich in einen Mann hineinversetzen, der, als Mensch, seine Freude an Sexualität, an Liebe und Sinnlichkeit, an leidenschaftlichem Begehren und familiärer Spiritualität gehabt haben mag.

Hier tun sich Schwierigkeiten mit der Logik auf: Entweder ist der Engel des Herren das „bittere Ende“ zu dem „auszuharren“ war, was der Verfasser sich ja eigentlich zu beklagen vorgenommen hatte, oder, die nur durch diesen Engel möglich gemachte Identifikation mit dem Mann Jesus in der Liebesszene mit Maria Magdalena ist positiv. Beides zugleich ergibt wenig Sinn.

Im Folgenden begeht Jens einen groben journalistischen Fauxpas, er springt nämlich ab hier achronologisch in der Handlung des Films zurück und willkürlich an verschiedene einzelne Stellen. Er macht nirgends kenntlich dass er jetzt zu allgemeineren Überlegungen wechselt, die stippvisitenartig angestellt werden. Damit vermittelt er ab hier dem Leser einen völlig falschen, nämlich total chaotischen Eindruck von der Handlung und der Dramaturgie des Films.


Wirklich schlimm hingegen wird es, wenn der Mann Jesus, in den Erhöhten verwandelt, seine Hollywood-Mirakel vorführt,

Der Ausdruck "Hollywood - Mirakel" ist hier in jeder Hinsicht fragwürdig. Zum Einen handelt es sich nicht, wie oben bereits erläutert um einen Hollywoodfilm, noch befleißigt sich die Regie jener Film- und Bildsprache die Jens hier als hollywoodesk unterstellt, sie orientiert sich eher deutlich an Pasolini’s „Il Vangelo Secondo Matteo“. Zum anderen wird hier der Eindruck von unpassenden Special Effects erweckt. Da es sich um einen Independent Film handelt, war dergleichen schon aus Budgetgründen unmöglich. Schlichter als nur über einen simplen Schnitt lässt sich diese Wundertätigkeit nun wirklich nicht erzählen.


aus einem Apfelbutzen den Baum sprießen läßt, den stinkenden Lazarus (nach langem Starren ins Höhlendunkel: Na mach schon und komm endlich heraus) zum Leben erweckt

Extrem problematisch ist hier, dass Jens zum zweiten Mal eine für professionelle, journalistisch einwandfreie Filmkritiken bindende ethische Linie überschreitet. Zum zweiten Mal unterstellt er hier einen seiner subjektiven Gefühlswahrnehmung entlehnten Eindruck, der aus der Filmerzählung der Szene objektiv nicht abgeleitet werden kann, unterstellt ihn den Filmemachern (und als Subtext dem Hauptdarsteller) und macht seine Kritik im Zirkelschluss daran fest.


oder, Gipfel der Peinlichkeiten, plötzlich sein apfelrotes, anatomisch wohlgeformtes Herz aus der Brust zieht – eine Sequenz, die genügt hätte, um den Betrachter (im Zustand puren Entsetzens; theologisch nicht minder angewidert als ästhetisch) den Saal räumen zu lassen.

Auch wenn Jens hier vollumfänglich unterschlägt, dass die hier angewendete Bildsprache aus der "Herz Jesu" Ikonographie religionsgeschichtlich wohl bekannt und direkt aus dieser uralten Tradition entlehnt ist, kann man hier seinem Einwand recht geben. Die Stelle hat zwar eine Berechtigung, vor allem durch die Metapher des Blutes, die den ganzen Film durchzieht, und die hier zum Höhepunkt geführt wird; aber ja, sie ist geschmacklos. Allerdings übertreibt Jens hier diese Wahrnehmung bis zur Unwahrheit. Hier werden Analogien zu Zuschauerreaktionen einer Größenordnung wie seinerzeit 1973, bei „Der Exorzist“ hergestellt, als Zuschauer tatsächlich ohnmächtig wurden. Jedoch von purem Entsetzen oder Schock, die auf den Zuschauer so wirken, dass er in Panik - in übrigens falschem Deutsch - den "Saal räumt", von dieser Splatterszene die Jens hier vor den Augen des Lesers entstehen lässt, kann objektiv nicht auch nur annähernd die Rede sein.

Hier ist noch symptomatisch auf etwas hinzuweisen: Das Herz, von dem die Rede ist, war aus Plastik (Independentfilm - Budget) und eben darum weitgehend in Jesu Hand verborgen, die billige Machart des Requisits wäre sonst aufgefallen. Wenn Jens hier erkennen konnte, das es "anatomisch wohlgeformt" war, hat ihn sein Unterbewusstsein Dinge erkennen lassen, die so gar nicht gezeigt werden konnten. Womöglich, darf man mutmaßen, war dies nicht die einzige Stelle des Films, an der das geschah.


Versäumt hätte er ohnehin nichts: Nach wenigen Minuten waren alle Muster durchgespielt – der zweieinhalbstündige Rest bestand nur noch aus Variationen des Grundmodells (der blonde Jesus zwischen Fleisch und Geist) und, dies vor allem, quälender Langeweile.

Action - Szene mit Willem Dafoe

Das ist eine subjektive Einschätzung auf die Herr Jens durchaus ein Recht hat, auch wenn er offenbar haarfarbenblind ist.


Je greller die action-Szenen (marschierende Römer, gestikulierende Juden, Jesus im Puff, im Tempel, am Kreuz), desto größer die Erschöpfung im Kino:

Auf die absolut unzulässige Fehldefinition bezüglich "Actionszenen" ist bereits früher hingewiesen worden, und Jens belegt uns hier recht schön den eigenen Fehler. Wenn jemand z.B. statisch, bewegungsunfähig am Kreuz hängt, wo kann da bitte von "Action" als physischer Handlung im Zusammenhang mit Spannung die Rede sein? Die subjektive Einschätzung dieser Szenen als grell mag dem Verfasser zugestanden werden, auch wenn diese Sequenzen nicht in einer Form aus dem Film hervorstechen, die diese Bezeichnung objektiv rechtfertigen würde. Auch im Vergleich zu anderen Filmen aus dem Jahr 1988 oder auch aus einem beliebigen Filmjahr VOR 1988 lässt sich das nicht ohne Weiteres festmachen.

Jedoch begeht Jens hier erneut einen journalistischen Kardinalfehler indem er sich erdreistet gleich für das gesamte Saalpublikum zu sprechen, deren Reaktionen zu deuten, wenn nicht sogar gleich deren Gedanken zu lesen, und diese, sagen wir, empirischen Erhebungen, dann auch noch im Zirkelschluss als Argument für seine eigene Position zu benutzen.


Monstrositäten, wie die sprechende Schlange, die auf ihre weiblichen Brüste verwies,



Schlangen haben keine Brüste. Die Schlange, Satan, die mit der Stimme Maria Magdalenas spricht, bezieht sich selbstverständlich auf Marias Brüste. Nicht auf die der Schlange. Dass Jesus Schlangen begehrt ist sehr schwer vorstellbar.


der philosophierende Löwe oder – welch ein Einfall! – das Feuer, das den Teufel vertrat, begannen ihren Unterhaltungswert rasch zu verlieren, und die Nacherzählung biblischer Passagen blieb krude Paraphrase in Agfacolor.


Diese Einschätzungen, nebst höhnischem Tonfall, bleiben Jens unbenommen, aber seine Metapher von der "Kruden Paraphrase in Agfacolor" ist filmhistorisch inkorrekt, was in einer Filmkritik natürlich als besonders ungenügend heraussticht. Das Agfacolor Farbsystem nämlich, bekannt für seine kitschig - samtenen Farben (die man Prof. Michael Ballhaus Kameraführung auch dann nicht unterstellen könnte, wenn man das wollte), hat seine Hochblüte zur NS Zeit, sowie in den 50iger und 60iger Jahren, und dort vor allem in Deutschland. Die Ära Agfacolor endet nach langem Dornröschenschlaf endgültig 1978. Jens, der sich hier erneut als filmhistorisch völlig unbeleckt präsentiert, kommt mit seinem Sprachbild also sowohl aus der falschen geografischen Ecke als auch volle zehn Jahre zu spät. Aus rein subjektiver Sicht drängt Sicht die Frage auf, WANN der Mann zuletzt im Kino gewesen sein mag?


Martin Scorsese inszeniert in Marokko

Gedankliche Anstrengung: nicht vorhanden.


Martin Scorsese arbeitete an diesem Film weit über 11 Jahre, kämpfte über 5 Jahre um die Finanzierung, das Drehbuch durchlief 7 verschiedene Arbeitsfassungen. Zuvor gab es nicht weniger als 15 Treatments. Der Dreh entstand unter unvorstellbarem Zeitdruck, unvorstellbaren logistischen Problemen, und mit einem unvorstellbar geringen Budget. Allein Scorseses Storyboards zum Film nehmen mehrere hundert Seiten in Anspruch. Hier jede gedankliche Anstrengung kategorisch abzusprechen ist von einer Dreistigkeit, die sprachlos macht.


Bemühungen, die kosmischen Visionen Kazantzakis’ ins Bild umzusetzen: gar nicht erst unternommen.

Hier unterliegt Jens, in seiner erstaunlich naiven Auffassung des Mediums erneut dem Grundfehler, der das Rückgrat seiner Filmbesprechung darstellt: Es ist nicht die Aufgabe des Filmemachers die Visionen des Schriftstellers ins Bild zu setzen, also den Roman zu bebildern. Es ist bei einer Verfilmung einer Vorlage die Aufgabe des Schriftstellers, dieselbe GESCHICHTE mit DENSELBEN FIGUREN zu erzählen wie der Autor der Vorlage, unter mindestens Berücksichtigung der AUSSAGEABSICHT des Autors der Vorlage, er kann und sollte auch versuchen DIESELBE ATMOSPHÄRE zu erzeugen wie der Autor der Vorlage; die Visionen des Autors der Vorlage haben ihn nicht unbedingt zwingend zu interessieren, er darf aber durchaus EIGENE VISIONEN entwickeln. Der Regisseur einer Literaturverfilmung ist nicht ein Dienstleister für den Autor der Vorlage, wohl aber dessen geistiger Erbe. Derartige Ansichten, wie Jens sie formuliert & impliziert, werden seit den frühen 20iger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Filmkritik nicht mehr anerkannt. Das hat einen Sinn, denn es handelt sich um völlig unterschiedliche Medien, Literatur kann Dinge leisten die Film nicht leisten kann und umgekehrt. Buch und Verfilmung können dabei völlig UNTERSCHIEDLICHE ZIELE haben. Im Fall von "die letzte Versuchung Christi" kreisen Film und Buch um den inneren Zweikampf des Menschen Jesus. Wo das Buch eine Introspektive darstellt, die versucht das nicht Darstellbare, sprachlich darzustellen, und der tatsächlichen kosmischen Gedankenwelt Jesu gerecht zu werden, und einen eher philosophischen Anspruch verfolgt (daher auch nur einer begrenzten Leserschaft zugänglich ist), will Scorsese in seiner Verfilmung über das Hilfsmittel der Fiktion einen Jesus zeigen, der uns mit seinem menschlichen Zwiespalt, seinem Ringen und seinen Anfechtungen, NAHE kommt, mit dem wir uns identifizieren können, so dass wir ihn ernster nehmen, den Umfang seiner Leistung besser verstehen können. Scorsese will dabei verhindern, dass Jesus, wie in klassischen Bibelfilmen, als unnahbare, unerreichbare, antiseptische Lichtgestalt ohne Probleme erscheint, die einen eben dadurch nicht wirklich herausfordert. Aber Scorsese will uns herausfordern, mit derselben Aussageabsicht wie Kazantzakis Roman, der Aussage "Wenn er den Versuchungen widerstehen und die Welt retten konnte, was alles mögen wir selbst dann in der Lage sein zu erreichen, wenn wir stark genug sind"

Scorsese hat sich bereits 1988 eingehend in Interviews dahingehend geäußert, Walter Jens, leider, hat es erkennbar verabsäumt sich mit dem Regisseur und dessen Zielen in irgendeiner Form auseinanderzusetzen. Und schätzt sie, nicht zuletzt aufgrund eines falschen Blickwinkels und antiamerikanischer Vorurteile, auch prompt falsch ein.



Der Versuch, im Disput zwischen Jesus und Judas, zwei grundverschiedene Messias-Vorstellungen sichtbar zu machen: zerredet auf bescheidenstem Niveau ...

Dem ist in gewisser Hinsicht sogar zuzustimmen, nur in positiveres Licht getaucht. Scorsese und Schrader wollten im Dialog bewusst hinausgehen über das sprachliche und intellektuelle Elitenniveau das Jens hier in Andeutung fordert, um nicht einen Teil des Publikums auszuschließen. Die Botschaft, darf man annehmen, war ihnen so wichtig.


und welch grandioses Gespräch hätte sich dabei aus der Debatte zwischen Jesus und dem „Anderen“ machen lassen, dem Überlieferer, ohne den es, mit Karl Barth zu sprechen, keine Überlieferung gäbe. Und wie plastisch wäre der nah-ferne Jesus geworden, hätte man ihn, nach einem Seitenblick auf die Evangelien, in seiner abstandgebietenden Vertrautheit mit den Menschen gezeigt.



Eine interessante Einlassung. Der "nah ferne Jesus", "abstandgebietende Vertrautheit" - spätestens hier wird klar, dass der Rezensent von den Zielen des Regisseurs (siehe oben) nichts weiß.

Problematisch ist zudem, dass, wenn Jens hier vom „Überlieferer“ spricht, er sich mittlerweile nicht mehr auf den Disput mit Judas bezieht, sondern bereits auf die Diskussion Jesu mit Paulus , fast 100 Filmminuten später; er wechselt das Objekt der Erörterung mitten im Satz und in einer Verquickung die für jemanden der den Film nicht zuvor gesehen hat, nicht einmal erkennbar ist. Wieder drängt sich der Ruf nach dem Lektor auf, den es hier offensichtlich nicht gegeben hat.



Statt dessen schwang Scorseses blonder Superman plötzlich das Beil,



Antisemitische Proteste in den USA
Abgesehen davon, dass die permanente (und permanent falsche) Anspielung auf die nicht ausreichend semitischen Äußerlichkeiten des braunhaarigen Willem Dafoe, spätestens ab dieser Stelle der Rezension einen leicht rassistische Unterton bekommt, einfach durch ständige Wiederholung des Unzutreffenden, ist die Kombination mit "Superman" noch abenteuerlicher. Wohlgemerkt "SupermaN" nicht "maNN", also eindeutig die amerikanischste aller Comicfiguren. Aber Superman fliegt, Superman trägt einen blauen Dress mit rotem Mantel, roten Stiefeln, und roter Überhose. Der Jesus des Films tut weder das eine noch trägt er das Andere. Weder Jesus noch Superman sind blond. Von irgendwelchen innerlichen Zerissenheiten Supermans oder Clark Kents ist uns, jedenfalls in den klassischen Comic – Universen, nichts bekannt. Was also soll diese unsinnige Analogie (man stelle es sich bitte optisch vor) - wenn nicht antiamerikanische Klischees bedienen?


mischte sich ins Getümmel, leitete die action-Szenen ein, die, höchst beliebig, einander folgten.


Hier werden wir wieder fehlinformiert: Die "Action Szenen" bzw. die Szenen die Walter Jens sich darunter vorstellt, folgen einander nicht, sondern sind über den Film verteilt, und in eine jeweiligen Kontext gebettet der sie erforderlich macht.


Nein, das ist wirklich keine adäquate Verfilmung des Kazantzakis-Romans, diese „letzte Versuchung“, an der das Interessanteste der Abspann war, mit der Aufzählung der Legionen von Maskenbildnern, Trickfachleuten, Haarkünstlern, Musik-Ensembles und Architekten.


Der Verweis auf den Abspann ist nicht uninteressant, denn er verrät uns, da Jens offenbar nicht nur nicht erkennt, dass es sich - was aus Budgetgründen (Der Film wurde ja für die Hälfte des kalkulierten Minimalbudgets realisiert) unumgänglich war - um ein ausgesprochen kleines, ja absolut minimales Produktionsteam handelt, sondern es sogar noch in völliger Verkennung der Verhältnisse für ein besonders Großes hält, Einiges über Jens Hintergrundkenntnisse und Erfahrung im Sichten von Filmen.


Welch ein Aufwand an Technik! Und wozu? Um eine ergreifende Ur-Geschichte in ein Zelluloid-Dramolett zu verwandeln, das alles, was in der Vorlage zart, andeutungsreich, verweisend und sinnfällig ist, in ein rüdes „so, Freunde, ist’s mit Jesus gewesen“ umformte, in ein peinlich-direktes „Auf-den-Punkt-Bringen“ höchst differenzierter Vorgänge.


„so, Freunde, ist’s mit Jesus gewesen“ wollte Scorsese, wie der Aussage des Films und auch dem Prologtext zu entnehmen ist, eben gerade nicht sagen. Scorseses aus der Not geborenes Pressestatement von 1988 macht das selbst für diejenigen deutlich, die den Film selbst nicht verstanden haben. Mit dieser unbelegten Fehlinformation - Jens erklärt uns ja nicht woher er diese durch ihn unterstellte Aussageabsicht der Macher kennt oder woraus er sie ableitet - befeuert der Rezensent Missverständnisse die zu einem erheblichen Teil Ursache der Hetzkampagne gegen den Film waren.

Natürlich mag eine Rolle spielen, dass Jens, als Literaturkritiker alter Schule, Ambivalenz, literarischen Subtext und Andeutung hochhält und eventuell ganz grundsätzlich mit der andersartigen Sprache des Filmmediums die nach direkteren Darstellungsformen verlangt, nichts anfangen kann – aber warum setzt man den Mann dann als Filmkritiker in einen Kinosaal?



Noch nicht einmal die einfältig-bunte, technisch in einem Film-Stil von anno dunnemal vorgeführte Szenerie des Vordergrunds stimmt: Nicht INRI stand, so dürfen wir annehmen, damals über dem Kreuz, sondern ein Text in drei Sprachen, aramäisch, lateinisch und griechisch, damit jedermann lesen konnte, worum es ging, bei Jesu Ermordung.



Was diese Inschrift betrifft ist Jens nicht völlig aufrichtig. Er bringt hier ein interessantes Argument, filmästhetisch übrigens völlig belanglos und daher auch filmkritisch irrelevant, und lässt es hier stehen wie einen historizistischen Einwand - der es nicht ist. Denn die Information über die Beschriftung der Tafel stammt nicht aus einem historischen Text, oder aus der Geschichtsschreibung oder aus archäologisch gesichertem Wissen, sondern aus dem Johannesevangelium, einer Glaubensschrift. Noch dazu derjenigen, die am weitesten von den historischen Geschehnissen entfernt, also am spätesten, entstand. Man darf auch Fragen ob der überzeugte Katholik Jens in den tausenden Kirchen die, aus der lateinischen Vulgata abgeleitet, ebenfalls die Abkürzung INRI auf den Kreuzen stehen haben, diesen Einwand ebenfalls vorbrachte. Interessant ist aber, das Jens davon spricht dass der Film in einem "Filmstil von anno dunnemal" (dunnemal = altertümlicher Ausdruck für dazumal) gedreht sei und DANN nicht einmal erläutert, oder erläutern kann, worin dieser Stil eigentlich bestehen soll.

An dieser Stelle sollte auch vielleicht einmal auf die aufschlussreiche in sich extrem widersprüchliche Wahrnehmung von Jens eingegangen werden. Einerseits beklagt er der Film sei von zu viel "grellen Actionszenen" durchzogen, dann spricht er von "quälender Langeweile" und Monstrositäten, die sich abnutzen, um kurz darauf special effects lastige "Hollywoodmirakel" und enormen technischen Aufwand zu erkennen, und dann ist der Film - Stil schlagartig von "anno dunnemal". Wie eigentlich lässt sich ein so konfuses Wahrnehmungsspektrum überhaupt noch vereinen?



Aber wahrscheinlich war Genauigkeit bei Scorsese schon im Ansatz so wenig wie Verweisungskraft gefragt


Hier verlassen wir erneut den Boden der Fakten, dafür spekuliert der Verfasser und "rät" nun, was dem Regisseur wichtig gewesen sein könnte, kommt zu einer Antwort, und unterstellt dem Objekt seiner Überlegungen eine gewisse Denkart. Belege bleibt er, vom vorstehenden Satz mit der "INRI" Inschrift abgesehen, der (siehe oben) nur sehr bedingt tauglich ist, schuldig. Dafür führt er den Neologismus "Verweisungskraft" ein, ohne ihn zu definieren, und erklärt ihn für unerfüllt. Genauigkeit im Bezug auf...? Verweisen auf....? Auf was? Den Roman?


– und bei so wenig Gedanken- und Kunst-Bemühung kann Jesus dann natürlich ganz ohne Bedenken sein Herz aus der Brust holen und es der staunenden Umwelt als eine Art von Himmelsspaß zeigen.


Purer Zynismus ist auch in der Filmkritik zu vermeiden, da er eine reine Gefühlsaufwallung darstellt und keinen journalistischen Mehrwert hat. Die Phrase "eine Art von Himmelsspaß" im Bezug auf die Herzensszene ist äußerst zweifelhaft, denn damit wird indirekt eine komische, und in diesem Kontext dann ja wohl verspottende Intention unterstellt. Drehbuchtext und fertige Szene enthalten aber keinerlei Indikatoren für eine solche Annahme. Es handelt sich, auch hier, um eine subjektive Empfindung des Rezensenten vor dessen Wahrnehmungshintergrund. Eine professionelle Filmkritik aber, darf sich nicht ausschließlich (und pausenlos) auf das eigene Innenleben des Kritikers fokussieren, und muss wenigstens irgendwelche überprüfbaren objektiven Haltepunkte aufweisen.


Fazit: Wer seine Neugier nicht bezähmen kann, schaue die Schnulze an.



Proteste gegen "Die letzte Versuchug Christi" 1988 in
der BRD
Der Begriff "Schnulze" wird hier fehlerhaft verwendet, und zwar als Synonym für "schlechter Film", das ist filmkritisch unrichtig, da als Schnulze ausschließlich ein undifferenzierter Schmachtfetzen definiert wird, der hemmungslos an oberflächliche Gefühle appelliert. Ein "Tränendrüsendrücker". In "Die letzte Versuchung Christi" sind keine Stellen nachweisbar die in "Sissi" Manier an niedere Emotionen appellieren, noch erfüllt er auch nur entfernt die objektiven Kriterien für ein Melodram.


Das Geld wird ihn reuen; denn verglichen mit dieser „Letzten Versuchung“ sind selbst Pornos jedenfalls ehrlich.

Erneut führt Jens den permanent unterstellten Vorwurf der Unaufrichtigkeit des Films ins Feld, erneut ohne Argumente oder Belege dafür zu liefern. Er präzisiert ja nicht einmal worin in seinen Augen die Unehrlichkeit des Films überhaupt besteht. Stattdessen gleitet der große deutsche Kulturschaffende Jens auch noch in eine gehässige, unangemessene Beleidigung ab, wenn er Scorseses Herzensprojekt UNTER die Stufe eines Pornos stellt. Dies hat mit objektiver Begründung eigener Meinung, der Basis jeder Filmkritik, nichts mehr zu tun.


Und was den Lila-Jesus und den herzigen Engel über dem niederbayerischen oder westfälischen Doppelbett in Omas und Opas Schlafzimmer angeht – über die wird einer, der Scorseses Film gesehen hat, gewiß nicht mehr lächeln. Lieber der rührende als der berechnende, auf eine Rambo-Gemeinde zugeschnittene Kitsch.

Ganz zum Ende der Filmbesprechung schließt Walter Jens wieder den Bogen zu seinem antiamerikanischen Lieblingsbild "Rambo" und unterstellt dem Film, und damit Drehbuchautor Schrader und Regisseur Scorsese ein bestimmtes Zielpublikum anvisiert zu haben. Und zwar aus Berechnung, dieses Motiv wird - natürlich wie immer ohne Beleg, ohne Argumentation, gleich mit unterstellt. "Rambo" ist ein Actionthriller mit ausgefeilten Stunts, Survival - Touch, Kriegsfilmelementen und hoher Totenzahl. Er ist zudem ausgewiesenermaßen ein reiner Unterhaltungsfilm. Das ein Zielpublikum für "Rambo" sich durch ein meditatives, breit angelegtes Religionsdrama mit einem Actionanteil der nachweislich deutlich unter 5 Minuten liegt, das entsprechende kulturelle und theologische Vorbildung voraussetzt, angesprochen fühlt ist eine absolut abenteuerliche Vorstellung von erschreckender Einfalt, die ohne einen uninformierten und stark verzerrten Blickwinkel des Rezensenten Jens nicht erklärbar ist.




FAZIT: Für eine Filmkritik zu polemisch, für eine Polemik zu deutlich an Filmkritiken orientiert, unterläuft Jens in diesem zynischen Text ein journalistischer Fauxpas nach dem Anderen, ein Faktenfehler nach dem Anderen, eine Peinlichkeit nach der Anderen. Der Mann ging erkennbar ohne jede Vorbereitung und ohne jedes Hintergrundwissen ins Kino um sich seine eigenen bourgeoisen Vorurteile bestätigen zu lassen, und hat diese im Artikel für DIE ZEIT teils an der Grenze zur üblen Nachrede ausagiert. Der potentielle Leser wird durch Jens‘ Einlassungen verwirrt und effektiv an mehreren Stellen falsch informiert. Bedauerlich nur dass dieser Text von einem intellektuellen Titanen stammt, dass er in einer bedeutenden Wochenzeitung deutschlandweit und ohne Korrektur publiziert wurde und dadurch leider eine Bedeutung und Verbreitung erlangte, die ihm nicht zukam.