Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Sonntag, 25. Juni 2017

GEBURT EINES ANTIHELDEN: "CRACKER" - FÜR ALLE FÄLLE FITZ

Viel zu Wenige kennen sie, die britische Ausnahmeserie die 1993 den Reigen des neuen seriellen Erzählens eröffnet und das Goldene Zeitalter des Fernsehens eingeleitet hat. Dieser Blog- Artikel ist der brillanten TV-Serie „Cracker“ gewidmet, die vom ZDF in den 90iger Jahren mit dem überaus dümmlichen Titel „Für alle Fälle Fitz“ versehen und konsequent nach 22:00 am Hauptpublikum vorbeigesendet worden war. Ohne „Cracker“ hätte es nie ein „Breaking Bad“ gegeben, kein „Homeland“, kein „Sherlock“ denn sie veränderte die Regeln nach denen Fernsehserien bis dato funktionierten und kreierte einen neuartigen Protagonistentypus fürs TV: Den Antihelden.




`Cracker´ ist ein wunderschöner und brutaler Cocktail aus schauriger Unterhaltung, schonungslosem sozialem Kommentar und unerschrockener Wahrhaftigkeit, zum Leben erweckt durch das wütende Genie von Autor & Schöpfer Jimmy McGovern und die mitreißend menschliche Darstellung von Robbie Coltrane als Edward `Fitz´ Fitzgerald, dem Höhepunkt seiner Karriere. Zwanzig Jahre nach Ausstrahlung der ersten Episode ist Cracker noch immer eine der fesselndsten, unter die Haut gehendsten und unwiderstehlichsten Drama-Serien die je den Bildschirm geziert haben. Sie zeigte der Welt, dass das UK in der Lage war HBO auf eigenem Terrain zu schlagen, noch bevor HBO überhaupt existierte“
                                                                                          JAMIE ANDREW auf  www.denofgeek.com


"`Cracker´ ist nach wie vor die beste Drama-Serie im Fernsehen. Robbie Coltane gibt die Perfomance seines Lebens, aber es sagt alles über die Qualität des Ensembles um ihn, dass es nie in seinem Schatten steht"
                                                                                                                                       THE TELEGAPH



Eine schrecklich nette Familie;
Fitz mit Sohn, Frau und Tochter.
"Cracker" ( "Brecher", "Aufbrecher") ist im britischen Slang das Wort für einen Polizeipsychologen bezeichnet aber auch einen Sturschädel. Im Mittelpunkt dieser herausragenden und mit Preisen überhäuften englischen Serie die in den frühen 90iger Jahren TV- Geschichte schrieb, steht denn auch ein Polizeipsychologe: Dr. Edward Fitzgerald, genannt "Fitz" (Robbie Coltrane). Der schwergewichtige, höchstsympathische Fitz mit seinem schwarzen, zynischen Humor, ist ein klassischer Antiheld: Er raucht wie ein Schlot, säuft wie ein Loch, ist chronisch pleite und manisch spielsüchtig.

Gegenüber seiner Frau (Barbara Flynn) und seinen Kindern Mark (Kieran O´Brien) und Katie ist er ein totaler Versager - unzuverlässig, untreu und hemmungslos egoistisch. In seinem Fach aber ein genialer Könner mit messerscharfem Verstand, der buchstäblich in die seelischen Abgründe seines Gegenübers blicken kann, und sie unbarmherzig auf höchstem intellektuellen Niveau seziert.


Fitz, der in der nordbritischen, keltisch geprägten Industriestadt Manchester lebt, wird anlässlich des in der ersten Folge geschilderten Falles, psychologischer Berater der Polizei von Manchester, repräsentiert durch DCI Billborough (der damals noch unbekannte Christopher Eccleston, rechts) dem jungen, unsicheren und jähzornigen Revierchef mit dem Herzen am rechten Fleck,  Detective Sergeant Jane Penhaligon (großartig: Geraldine Somerville, rechts, damals frisch von der Schauspielschule, heute Theaterstar und als Harry Potters Mutter im Kino zu sehen) der hochambitionierten, etwas verbissenen und schlagfertigen rothaarigen Schönheit, der Fitz den liebevoll ironischen Spitznamen "Penthesilea" (Im Original "Panhandle" = Pfannenstiel) verpasst,  und DS Jimmy Beck (Lorcan Cranitch, unten) ein knallharter Redneck und Law-and-Order-Fanatiker - mit allerdings hochsensiblem Kern - der seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat. 

Lady in red: Geraldine Somerville als Penhaligon
Trotz teilweise erheblicher Differenzen mit der Polizei, die Fitzens Thesen häufig ablehnt, bleibt der brillante aber problematische Psychologe, der auf Honorarbasis arbeitet, deren größter Trumpf - auch wenn er nicht alle Fälle klären kann.....

Was die "Serie" Cracker, entstanden zwischen 1993 und 1995, bestehend aus 9 Fällen, die im britischen Fernsehen in 23 Episoden aufgesplittet waren, von anderen TV - Produktionen meilenweit abhebt sind ihre besonderen Qualitäten:

Sensibler Redneck: Lorcan Cranitch als Jimmy Beck







Die von Robbie Coltrane (Der knuddelige Hagrid aus den "Harry Potter" Filmen, unten als Fitz) - vormals durch Filme wie "Nonnen auf der Flucht" und "ein Papst zum Küssen" zum reinen Komiker gestempelt - furios verkörperte Hauptfigur ist im Schnittfeld von Brillanz und Schwächen schier unwiderstehlich: Man muss ihn lieben. Schauspielerisch auf allerhöchstem Niveau. Dass für die Rolle ursprünglich  Theaterschauspieler Robert Lindsay vorgesehen war, erscheint heute, nicht zuletzt aufgrund Coltranes darstellerischer Bravour und der enormen Wucht seiner Präsenz völlig unvorstellbar.

Die Drehbücher von Jimmy McGovern sind eigentlich mitreißende Sozialdramen von großem Tiefgang im Thrillergewande: Extrem dreidimensionale, vielschichtige Figuren agieren in ungewöhnlich erzählten, spektakulären Geschichten, von denen die besten absolut unvergesslich bleiben, und dies alles weitab von üblichen Serien und TV - Mustern und -.schablonen. Dazu schrieb Erfinder McGovern, privat ein schüchterner Stotterer, einige der brillantesten, kunstvollsten Dialoge der Fernsehgeschichte, die trotz ihres literarischen Werts extrem nah am Leben, am tatsächlich gesprochenen Wort sind. Es gelang McGovern ganz präzise die mittelenglische Umgangsprache der frühen 90iger Jahre einzufangen, wobei der sarkastische Witz teilweise unwiderstehlich und teilweise von brutaler Härte ist. Das Ensemble aus Fitzens Familie und den eigentlichen Ermittlern erhält darüberhinaus im Laufe der Serie breiten Raum, alle Figuren werden auf hohem Niveau auf das interessanteste entfaltet, und die großartigen Schauspieler Christopher Eccleston, Geraldine Somerville, Lorcan Cranitch, Barbara Flynn und später Ricky Tomlinson erhalten Gelegenheit die ganze Bandbreite ihres darstellerischen Könnens zu zeigen, haben beachtliche Bögen zu füllen, sind damit mehr als blosse Stichwortgeber.
Auch die Ensembledarstellungen wirken lange nach.


Ebenso breiten Raum erhalten die superben Gaststars, für ihre oft meisterhaft geschriebenen und gespielten Täterfiguren, auch jene jenseits aller Eindimensionalität. unter ihnen z.B Robert Carlyle und Samantha Morton, die hier ihren Durchbruch erlebten und heute zur ersten Riege britischer Filmstars gehören.
Er sollte einfach nicht trinken: Fitz,

Das eigentliche Herzstück aber ist das ungewöhnliche Erzählkonzept selbst: Die Haupthandlung greift stehts spektakuläre Verbrechen auf, meist aus tragischen Umständen entstanden, deren Entwicklung der Zuschauer von Anfang an miterlebt, auch - meist - die Täter kennt, so dass die Spannung nicht auf ein "whodunit" (Wer ist der Täter?) wie bei Agatha Christie, sondern auf ein "whydunit" (Warum ist es passiert?) gelenkt wird, auf die psychologischen Motive des Täters, die oft zu dessen Ergreifung führen oder zum vollständigen Verstehen der Tat, und auf die Frage ob es dem Ermittlerteam und dem Berater Fitz gelingen wird, den Täter zu fassen bevor noch Schlimmeres passiert. Dank eines perfekten dramaturgischen Baus, Dialogen und Szenen die immer frisch, unkonventionell , orignell, nie vorhersehbar und gerade dadurch aufregend sind, führt dieses Konzept in der Regel zu hypnotischer Hochspannung. Diese Spannung wird durch die langen Verhörszenen (bis zu 30 Minuten!) in denen Fitz das Seelenleben der Verbrecher erforscht, die langsam geschnitten und mit Zeit für Figurenetwicklung höchste, intime Kammerspielqualität erreichen, noch auf die Spitze getrieben.

Hier ein Beispiel aus „Brotherly Love“ – kurz vor der Beerdigung seiner Mutter lässt sich Fitz sicherheitshalber noch die Beichte abnehmen. Da er das im Beichtstuhl jenes Priesters tut, dessen Bruder gerade wegen Prostituiertenmordes in Haft sitzt, eines Priesters der Fitz schon als Jungen kannte, engleitet die Beichte zum Verhör:


FITZ
Vater vergib mir, denn ich habe gesündigt. Es sind …äh…um die 30 Jahre seit meiner letzten Beichte.
FATHER HARVEY
Möge Gott dir helfen deine Sünden mit echter Reue zu bekennen.
FITZ
Reue?
FATHER HARVEY
Ja.
FITZ
Ah. Das ist ein Problem, denn meine erste Sünde ist Ehebruch und ich bereue gar nichts. Was kriegt man dafür heutzutage? Neun Rosenkränze? Das war's wert.
FATHER HARVEY
Weiß deine Frau Bescheid?
FITZ
Ja. Das tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich meiner Frau wehgetan habe.
FATHER HARVEY
Sonst noch was?
FITZ
Ähm… ich trinke zu viel. Ich rauche zu viel. Ich spiele zu viel. Ich BIN zu viel.
FATHER HARVEY
Ich weiß. Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht.
FITZ
Ja….Wie ist das, wenn ein Priester unwürdig ist Priester zu sein?  Gilt die Absolution trotzdem?
FATHER HARVEY
Ja
FITZ
Und morgen verwandelt sich der Klumpen Brot immer noch in den Leib Christi, ja?
FATHER HARVEY
Ja
FITZ
Sogar wenn….nun…
FATHER HARVEY
Der Priester in einen Mord verwickelt ist?
FITZ
Ja.
FATHER HARVEY
Gott wird dich nicht für die Sünden deines Priesters bestrafen
FITZ
Sie mögen Prostituierte nicht, nicht wahr?
FATHER HARVEY
Ich mag Prostitution nicht.
FITZ
Sie verachten sie?
FATHER HARVEY
Sie verkaufen Sex. Sie verkaufen etwas Heiliges.
FITZ
Dann haben sie doch viel mit Ihnen gemeinsam. Prostituierte verkaufen es nur billiger. 20,30 Pfund für ein Mal. Was bekommen Sie? Ein Auto, einen Job fürs Leben, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Essen im Bauch.
FATHER HARVEY
Sie haben eine ziemlich romantische Vorstellung von  Prostituierten, Eddie.
FITZ
Fitz.
FATHER HARVEY
Sie sind nur da draußen, damit ihre Kinder Etwas zum Anziehen und zu Essen haben?
FITZ
Ja.
FATHER HARVEY
Und wo nehmen ihre Freier das Geld her?  Indem sie ihre eigenen Ehefrauen kurz halten und ihre eigenen Kinder hungern lassen. Prostituierte nehmen das Geld anderer Frauen, nicht der Männer.
FITZ
Ist es das, was sie David erzählt haben? Hat ihm das leichter gemacht Jean McIlvanney zu töten?
FATHER HARVEY
Warum trinkst du?
FITZ
Ich langweile mich schnell.
FATHER HARVEY
Bullshit!  Das sagt jeder Säufer. Du trinkst weil du dich verachtest, oder die Menschen um dich herum. Oder du hast ein sexuelles Problem, oder ein psychisches Problem.
FITZ
Ich halte Sie für einen Mörder.
FATHER HARVEY
Verstehe. Ein psychisches Problem.
FITZ
Ich meine es ernst.


Dabei griff Autor McGovern stets auf hochaktuelle Themen zurück, die er in tabubrechender Ehrlichkeit , oft hochprovokanter Gestaltung vor allem aber immer mit Tiefenschärfe abhandelte, wobei meist mehr Fragen gestellt als beantwortet wurden: Amoklauf zweier Verzweifelter, Pädophilie und Unschuld, Rechtsradikalismus als Aufbegehren gegen die Gesellschaft, fundamentalistisch christliche Sekten, Vergewaltigung, Prostitution und Kirche....und, und, und. Ein gewisser Hang zum Realismus ist auch darin erkennbar, dass die detaillierte Polizeiarbeit fast halbdokumentarisch gezeigt wird, und Hauptfigur "Fitz" eben nicht, wie in anderen Serien üblich , auf eigene Faust selbst ermittelt, sondern "nur" seinen Job als Polizeipsychologe macht - ist auch spannend genug!

Die Rahmenhandlung, die das wenig erfolgreiche Privatleben von Fitz und den Ermittlern zeigt und dabei große Nähe zu echter menschlicher Wahrheit erreicht - wobei sich diese beiden Sphären oft kunstvoll überschneiden - spann dabei ,damals ein bahnbrechend neues Konzept , einen fortlaufenden Bogen über alle Folgen.

Besonders bemerkenswert: "Cracker" vermeidet über alle drei Staffeln alles serielle, alle wiederkehrenden Muster und Schemata - die Erwartungshaltung des Zuschauers wird so gut wie nie erfüllt, sie wird in überraschender Weise übertroffen. So funktioniert "Cracker" eher wie ein hervorragender Spielfilm - nur eben mit über 1000 Minuten Laufzeit - denn wie eine Reihe Episoden die nach gleichem Muster gestrickt sind. Dabei gingen die Autoren Jimmy McGovern und Paul Abbot sogar soweit, dass der Zuschauer nicht einmal sicher sein konnte, dass alle Mitglieder der Stammbesetzung überleben, oder die Fälle unbeschadet überstehen, oder dass ein Fall überhaupt aufgeklärt wird.

Mit spitzem Finger in die Wunden des Rassismus
Als der erste Fall Mad Woman In The Attic 1993 von ITV ausgestrahlt wurde, in direkter Konkurrenz zur sehr guten Krimireihe Prime Suspect mit der großen Helen Mirren als Chiefinspector Tennyson, war es ein Einstand mit Paukenschlag: Am darauffolgenden Tag war die britische Fernsehlandschaft nicht mehr diesselbe, und "Fitz" die berühmteste Figur im englischen TV. "Cracker" wurde mit Preisen und Auszeichnungen überschüttet, darunter jeweils 1994,1995 und 1996 (also für alle drei Staffeln) der hochangesehene BAFTA (British Academy Of Film And Television) Award als Beste Drama - Serie, für das beste Drehbuch und den besten TV - Hauptdarsteller (Robbie Coltrane). Sowie fast vierzig weitere nationale und internationale Auszeichnungen. Zudem hagelte es Kritkikerlob. Vincent Canby schrieb in der New York Times "Cracker is acting in strongest artistic perfection", die Londoner Times sprach von "A landmark TV - series: Stand-out storytelling meets stand - out acting", der STERN in Deutschland urteilte " 'Für alle Fälle Fitz´ beweist es: Manchmal ist Fernsehen Kunst", der Spiegel schrieb "Eine absolute Ausnahmeerscheinung: Selten haben sich hoher Unterhaltungswert, hohe Qualität und bemerkenswerter Tiefgang so trefflich verbunden", und die Süddeutsche Zeutung sprach von "der besten Fernsehproduktion der 90iger Jahre". Dabei war "Cracker" auch beim Publikum ein Hit: Im Lauf der ersten Staffel erlangte die Serie eine vorher für unmöglich gehaltene Sehbeteiligung von über 50 %, und, als die Zweite Staffel wegen "exzessiver Gewaltdarstellungen" erst um 23.00 Uhr gezeigt werden durfte, sogar von über 68 %. Erstmals wurde eine Fernsehserie von Kritik und Publikum einhellig an die Spitze getragen.

Robbie Coltrane und Helen Mirren nahmen die medial hochgespielte Konkurrenz zwischen den Spitzenserien PRIME SUSPECT und CRACKER niemals richtig ernst, wie beider Auftritt in der sketchhaften Parodie PRIME CRACKER zeigt:



Hier ein kleiner Episodenführer :

Die Titel sind im englischen Original angegeben, die deutschen Titel als Fußnoten am Ende des Dokuments, des weiteren genannt sind Autor, Jahr und die Anzahl der Teile in die die Folge im Original aufgesplittert war. Zweiteiler haben zwischen 100 und 115 Minuten, Dreiteiler zwischen 148 und 156 Minuten Laufzeit. Die Staffel – Einteilung richtet sich nach den DVD – Boxen.




STAFFEL I



Mad Woman In The Attic (Mord ohne Erinnerung)
( 1 + 2 )
Autor: Jimmy McGovern
1993


Die Polizei von Manchester jagt einen Serienmörder den die Presse "Sweeney" getauft hat. Drei Frauen fielen ihm bislang zum Opfer, immer in fahrenden Zügen. Eines der Opfer war Studentin des Psychologen und Gelegenheitsdozenten Dr. Edward "Fitz" Fitzgerald. Der erschütterte Fitz bietet der Polizei seine Hilfe an, die zunächst ablehnt. Dann aber wird neben den Bahngleisen ein blutüberströmter Mann gefunden - der sich an nichts mehr erinnern kann......

Ein Einstand wie ein Paukenschlag! Harter, geistreicher, superb geschnittener und brillant gespielter Thriller voller Doppelbödigkeit, mit starkem Finale. Springt dem Zuschauer regelrecht an die Gurgel. Grandios die Einführung von Fitz anlässlich einer Vorlesung: Solche Dialoge hatte es im TV nie vorher gegeben.









To Say I Love You (Mörderische Liebe)
( 1 + 2 + 3 )
Autor: Jimmy McGovern
1993


Sean Kerrigan ist arbeitslos, abgebrannt und stottert. Als er sich bei einem Karaoke - Wettbewerb in ein Mädchen verliebt, das seine Gefühle erwirdert und seine Sätze vollenden kann, scheint das Glück perfekt. Doch sie war Prostituierte und das Milieu holt die Liebenden ein. So gerät das verzweifelte Pärchen auf die schiefe Bahn. Zurück bleibt eine Spur von Toten....

Großartige, tragische Folge mit herausragenden Darstellungen, die Oliver Stones "Natural Born Killers" in der beeindruckend - gefühlvollen Variante vorwegnimmt. Dabei duchwegs hochspannend, und mit einigen unvergesslichen Szenen. Beachtlich auch die Ensemble - Leistung von Somerville und Eccleston. Köstlicher Gag: Fitz imitiert Peter Falk als "Columbo"










One Day A Lemming Will Fly (Tod eines Knaben)

( 1 + 2 )
Jimmy McGovern
1993


Ein kleiner Junge, in der Dämmerung unterwegs, kehrt nicht mehr heim. Man findet seine erhängte Leiche im Wald: Mord. Während Fitz noch versucht das Leid der Eltern zu lindern, ergibt sich eine Spur: Der als homosexuell geltende Lehrer des Jungen, begeht einen Selbstmordversuch....

Sehr unbequeme, überraschende Folge, hervorragend geschrieben und großartig gespielt. Ein Film der zum Nachdenken anregt. Mutig: Das Leid der Eltern wurde dem Zuschauer in extrem langen Einstellungen ungefiltert zugemutet- anrührend! Ein Knaller: Der unerwartete Schluss - zugleich Abschluss der ersten Staffel - eine schallende Ohrfeige an die konventionellen Sehgehwohnheiten des Zuschauers, löste in England einen Skandal aus.







STAFFEL II




To Be A Somebody (Kalte Rache)
( 1 + 2 + 3 )
Autor: Jimmy McGovern
1994


Als sein Vater stirbt, und er sich seiner eigenen Bedeutungslosigkeit gewahr wird, rasiert der traumatisierte Arbeiter Albie Kinsella sein Haar ab, und sticht einen pakistanischen Ladenbesitzer nieder. Während die Polizei - die sich mittlerweile von Fitz distanziert hat - vergeblich nach einem rassistischen Skinhead sucht, ahnt Fitz das wahre Motiv -und dass es weitere Tote geben wird.....

Eine Sternstunde der englischen Fernsehgeschichte, die uns tief in eine historische Tragödie der jüngeren britischen Geschichte führt. Robert Carlyles Darstellung des Albie ist schlicht atemberaubend. Herausragend gespielt auch in allen anderen Rollen. Soghafte Spannung mit grandiosen Dialogen. Der Schluss ist ein massiver Schock für den Zuschauer - der wiederum einen Skandal auslöste




The Big Crunch (Teuflische Verführung)
( 1 + 2 + 3 )
Autor: Ted Whitehead
1994


Eine junge Schülerin erwartet ein Kind von ihrem Schuldirektor, zugleich Führer einer fundamentalistisch - christlichen Sekte. Als dessen Frau und deren Freunde davon erfahren, und das Mädchen eine Abtreibung verweigert, wird die zerbrechliche Schülerin entführt, gefoltert, ihr Leib mit Symbolen übersät, und unter Drogen gesetzt. So soll sie im Häcksler einer Papierfabrik den Tod finden. Doch ein behinderter junger Lagerarbeiter entdeckt die Sterbende....

Die einzige "Cracker" - Folge die nicht von Jimmy McGovern oder Paul Abbott stammt, sondern von Ted Whitehead. Teils etwas behäbiger und biederer als andere Folgen, ohne den McGovern - Touch. Trotzdem exquisit gespielt - vor allem Samantha Morton als Opfer und Robbie Coltrane als depressiver, abgestürzter Fitz überzeugen - und sehr spannend. Ein entlarvender Blick hinter die Kulissen spießbürgerlicher Heuchelei.







Men Should Weep (Männerphantasien)

( 1 + 2 + 3 )
Autor: Jimmy McGovern
1994


Ein brutaler, psychopathischer Serienvergewaltiger geht in Manchester um, der seine Opfer mit Namen kennt, und nach der Tat wäscht,um Spuren zu vernichten. Statistikgemäß sucht die Polizei einen weißen Täter, doch der junge Taxifahrer, der die Taten begeht, ist schwarz. Während die Polizei ermittelt, wird Fitz von einem früheren Opfer kontaktiert - einer Farbigen.Dann eskaliert die Situation....

Der Abschluss der brillanten zweiten Staffel - wiederum ein Hammer. Eine schockierend intensive Folge, dramaturgisch wagemutig, die nicht nur erschütterndes über Sexismus ausspricht, sondern auch die gnadenlose Anklage einer bigotten Gesellschaft darstellt - und buchstäblich unter die Haut geht.Überragende Schauspielleistungen in allen Rollen. Wieder wird dem Zuschauer ein heftiger Schock zugemutet, was erneut zu landesweiten Diskussionen führte.









STAFFEL III




Brotherly Love (Bruderliebe)

( 1 + 2 + 3 )
Autor: Jimmy McGovern
1995


Ein entsetzlicher Fall: Ein spießbürgerlicher Familienvater aus einer der Vorstädte von Manchester sucht gewohnheitsmäßig Prostituierte auf. Als  dabei ein Streit um Geld ausbricht, kommt es zum Eklat. Tags darauf findet die Polizei die genital verstümmelte Leiche der Prostituierten. Schnell findet man dank Fitz den Täter. Doch kaum ist der unter Arrest, geschieht ein zweiter, identischer Mord....

Wegen ihrer Gewaltdarstellungen damals umstrittene, extrem intensiv gespielte Folge mit denkwürdigen Dialogen und herausragenden Schauspie-lern, die nach und nach tragische Hintergründe enthüllt.Die Konsequenzen der vorherigen Folge entfalten sich mit voller Wucht. Der spektakuläre Schluss ist wie ein Schlag in die Magengrube. Furios!












Best Boys (Racheengel)( 1 + 2 )
Autor: Paul Abbott
1995

Ein 35 - jähriger Vorarbeiter mit Armeevergangenheit verliebt sich in einen 16-jährigen Waisenjungen. Um ihre, von der Gesellschaft nicht akzeptierte, erotisch aufgeladene Freundschaft zu verbergen, begehen sie einen brutalen Mord an der Vermieterin. Doch sie hinterlassen Spuren, und müssen fliehen. Als der Ex-Soldat von der schlimmen Vergangenheit des Jungen, dem er mittlerweile hörig ist, erfährt, wird aus der Flucht ein Rachefeldzug....

Die erste Folge aus der Feder von Paul Abbott, dem Co - Produzenten, hat nicht mehr die emotionale Wucht wie die vorhergehenden, auch nicht mehr ganz die Frische oder den dramaturgischen Wagemut, hält jedoch in Punkto Figurenzeichnung und Dialoge das hohe Niveau.Exquisit gespielte, ebenso packende wie berührende Folge.

















True Romance (Liebesfalle)

( 1 + 2 )
Autor: Paul Abbott
1995


Während er an der Universität Vorlesungen hält, erhält Fitz den Liebesbrief einer anonymen Studentin, die ihn anhimmelt. Als er darauf nicht reagiert, beginnt die schüchterne, verbitterte Frau eine Mordserie an jungen Männern, um Fitz' Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erlangen. Als Fitz das Spiel durchschaut, ist es zu spät, denn diesmal ist er persönlich betroffen....






Die letzte Folge der eigentlichen Serie hält das Niveau der vorhergehenden Episoden und rundet die Gesamthandlung der drei Staffeln ab, indem sie geschickt den Kreis schließt. Ein hochspannender Fall, am Ende etwas reißerisch aber nie unglaubwürdig, mit brillanten Darstellerleistungen, einem denkwürdig intensiven Verhör und einem mutigen, pessimistischen Schluss. Ein weit überdurchschnittlicher TV - Film.





Nach der dritten Staffel wurde „Cracker“ trotz Top – Quoten, anhaltendem Kritikerlob und zahlreichen Preisen eingestellt: Auf Wunsch der Schauspieler und von Autor Jimmy McGovern. Man wollte das Projekt nicht totreiten, sondern auf dem Höhepunkt des Erfolgs abtreten, was auch gelang. Es gab jedoch mit Executive Producer Gub Neal die Absprache, dass Hauptdarsteller Coltrane, die Autoren und die verfügbaren Mitglieder der Stammbesetzung – falls brandaktuelle Stoffe locken würden – für Specials in Spielfilmlänge zur Verfügung stünden. Bislang entstanden zwei solcher Specials, die auf dem deutschen DVD – Markt zu einer real nicht existierenden vierten Staffel (nebst Making Of) zusammengefasst wurden.




"STAFFEL IV"




White Ghost (Weiße Teufel)
S p e c i a l
Autor: Paul Abbott
1996


Hongkong, britische Kronkolonnie, 1996: Ein britischer Geschäftsmann , im Slang der Chinesen ein "White Ghost" , erlebt den ultimativen Alptraum: Seine Firma geht bankrott, sein bester Freund verrät ihn, und seine junge asiatische Frau will aufgrund dieser Situation ihr Baby abtreiben - Auslöser einer Tragödie: Der "White Ghost" begeht zwei Morde und entführt seine Frau. Die Hongkonger Polizei tappt im Dunkeln, und wendet sich schließlich an den mürrischen Fitz der eine Gastvorlesung an der Polizeiakademie von Kowloon hält....

Das bemerkenswerte Special wurde nach Ende der eigentlichen Serie gedreht, und bietet neben einem überaus amüsanten Kulturclash mit einem herrlich maulenden Fitz, und einem spannenden, spektakulären Fall, der auf einem realen Ereignis beruht, wiederum Tiefgang, hervorragende Dialoge und glänzende schauspielerische Leistungen, ohne jedoch ganz an die grandiosen Serienfolgen anknüpfen zu können.














Nine Eleven (Nine Eleven)
S p e c i a l
Autor: Jimmy McGovern
2006


Manchester 2006: Ein nur wenig gezähmter Fitz kehrt nach 10 Jahren in Australien anlässlich der Hochzeit seiner nun erwachsenen Tochter Katie in seine Heimatstadt zurück, und wird in einen Polizeifall hineingezogen: Der Ex-Soldat Kenny kehrte traumatisiert aus Nordirland zurück, jetzt nach dem elften September, scheint der dortige Terror nur noch eine Bagatelle. In seiner Verbitterung erwachen mörderische Gelüste, und der Nahkampfexperte tötet einen Amerikaner. Als auch noch dessen Vater getötet wird, keimt in Fitz ein furchtbarer Verdacht....

Dieses zweite Special ist ein überaus spannendes, provokantes Drama, mit hervorragender Dramaturgie und glänzenden Dialogen, dass nicht platt den elften September 2001 ausbeutet, sondern in berührender Form auf die versteckten, oft vergessenen Folgen weist: Die Tragödie jener Menschen, deren Leben - obschon nicht selbst betroffen - durch diesen Tag aus der Bahn geworfen wurde. Zweites Hauptthema ist Fitz` wehmütiges Wiedersehen mit seiner inzwischen gewandelten Heimatstadt. Die Schauspielerischen Leistungen in den Hauptrollen sind bestechend, besonders Robbie Coltranes zwar älterer, weiserer aber energetisch ungebrochener Fitz. Ausgezeichnet mit dem BAFTA Award als Bester TV - Film des Jahres.




Der Einfluss von "Cracker" war und ist beachtlich: Noch 1996 versuchten die Amerikaner das Konzept zu kopieren. Das mit anderer Besetzung und anderen Drehbüchern erstellte US -Remake "Fitz" war von vornherein zum Scheitern verurteilt: Weichgespült, um Zynismus, Gewalt, Realismus aber auch die brillanten Dialogie , mutige Dramaturgie und anrührenden Momente erleichtert, ohne die schauspielerische Spitzenklasse des Originals, und auf 50 Minuten je Fall eingeschrumpft, wo in der Vorlage noch 100 bis 150 Minuten zur Verfügung standen, wurde die US - Version so von der Kritik zerfetzt, dass sie nicht einmal die erste Staffel überlebte: Sie wurde nach 15 Folgen (von 24) abgesetzt.


Aber zahllose andere britische und amerikanische Formate waren vom totalen Bruch mit allen Serienregeln und - mustern und dem Mut zu Spitzenqualiät und kühner Dramaturgie beeinflusst, so die späten Folgen von Prime Suspect, aber auch Serien wie Dr.House, Breaking Bad oder der brillante Zweiteiler Messias der später in Serie ging, aber auch Kinofilme wie Natural Born Killers oder Fargo, und praktisch jeder britische Polizeifilm nach 1993. Luc Besson kopiert in das fünfte Element eine komplette (!) Szene aus "One Day A Lemming Will Fly", nur mit anderen Figuren.

Auch der gebrochene, befleckte , zynische Antiheld als Serienfigur (statt wie vormals der reine Held in den üblichen Serien der 80iger und 90iger Jahre) war eine Entdeckung die heutige Formate „Cracker“ verdanken, ebenso den Hang zu intellektueller Tiefenschärfe, die den Zuschauer und dessen Konzentration forderte. Eine erhebliche Qualitätssteigerung englischsprachiger TV – Drehbücher war die Folge. Die heutige Serienlandschaft wäre um vieles ärmer, darunter um eine schlicht unvergeßliche Titelfigur, hätte es diese Epoche machende Serie nicht gegeben.

Noch 2003 bezeichnete DIE ZEIT "Cracker" als "Eine TV Reihe weit über Normalnull. Heute so aufregend und brillant wie damals". 2007, 12 Jahre nach Einstellung der eigentlichen Serie wurde in einer Publikums -Umfrage des Londoner Evening Standard, die nach der beliebtesten britischen TV - Serie fragte, "Cracker" vor allen anderen aktuell laufenden Produktionen auf Platz Eins gewählt.

Das Schlußwort überlasse ich nochmals JAMIE ANDREW von denofgeek.com , weil er es  viel besser sagt als ich es je könnte:

„Was auch immer Fitz‘ Schicksal sein mag – Cracker wird die Zeit überdauern. Eine Serie die ihren Platz im Pantheon der Großen der Fernsehgeschichte absolut verdient, eine die demonstriert, dass, wenn wir Briten unseren Verstand und unsere schwarzen Herzen darauf konzentrieren, Serien produzieren können, die es mit unseren amerikanischen Lieblingsimporten aufnehmen, und sie tatsächlich sogar übertreffen können. Wenn Sie also das nächste Mal eine Bestenliste erstellen denken Sie dran einen Rang für Fitz aufzusparen. Cracker – und diesem billigen Witz kann ich nicht länger widerstehen- ist ein Cracker (Knüller) von einer Serie, eine die es verdient wie ein Erbstück von Generation zu Generation weitergegeben zu werden“

In diesem Sinne, lieber Leser - hier ist ihr Erbstück.