Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Sonntag, 1. Dezember 2024

"ANGELS IN AMERICA" (2003) - "DAS GROSSE WERK BEGINNT"

 


 


"„Die Geschichte ist dabei, aufzubrechen“, sagt die von den Toten auferstandene Ethel Rosenberg, als sie einem leichenblassen Roy Cohn, der bald an AIDS sterben wird, in seinem Stadthaus an der East Side gegenübersteht. „Irgendetwas wird passieren“, sagt eine Hausfrau aus Brooklyn, die so abhängig von Valium ist, dass sie denkt, sie sei in der Antarktis. Wir schreiben das Jahr 1985. Bis zum nächsten Jahrtausend sind es noch 15 Jahre. Und ein junger Mann, der in seinem Schlafzimmer in Greenwich Village in Todesfieber versinkt, hört ein anhaltendes Pochen, einen donnernden Herzschlag, als ob der Himmel ein Wunder gebären würde, damit er wiedergeboren werden kann.

 

Stephen Spinella (Prior) und Ellen McLaughlin (Engel) in der Uraufführung 1993

 

Dies ist die erstaunliche Theaterlandschaft, intim und episch, von Tony Kushners „Angels in America“, das gestern Abend im Walter Kerr Theater sein mit Spannung erwartetes Broadway-Debüt gab. Über dieses Stück ist bereits so viel gesprochen worden, dass Sie vielleicht meinen, es schon gesehen zu haben, aber glauben Sie mir, das haben Sie nicht, selbst wenn Sie es tatsächlich gesehen haben. Die neue New Yorker Inszenierung ist die dritte, die ich von „Millennium Approaches“, wie der erste, in sich abgeschlossene, dreieinhalbstündige Teil von „Angels in America“ heißt, gesehen habe. (Teil 2, „Perestroika“, soll im Herbst ins Repertoire aufgenommen werden.) Unter der kristallklare-hellsichtigen Regie von George C. Wolfe und mit flammenden Darbietungen von Ron Leibman und Stephen Spinella verstärkt diese Inszenierung nur noch den Eindruck, dass Herr Kushner das aufregendste amerikanische Stück seit Jahren geschrieben hat.

 

Angels in America“ ist ein Werk, das nie seinen bösen Sinn für Humor oder sein mitreißendes Gespür für so zeitlose dramatische Themen wie Leben, Tod und Glaube verliert, selbst wenn es sich in einem Gebiet bewegt, das so weit entfernt ist wie die komplexe, von der Pest heimgesuchte Nation, die Kushner sowohl untersuchen als auch ansprechen möchte. Das Stück mit dem Untertitel „A Gay Fantasia on National Themes“ ist ein politischer Aufruf zu den Waffen im Zeitalter von AIDS, aber es ist keine Polemik. Kushners Überzeugungen über Macht und Gerechtigkeit entsprechen seiner Überzeugung, dass die Bühne, und vielleicht nur die Bühne, ein Raum ist, der groß genug ist, um alles zu beherbergen, vom präzisen Realismus bis zur surrealistischen Halluzination, von der schwarzen Komödie bis zur religiösen Offenbarung. In „Angels in America“, einem wahrhaft amerikanischen Werk, das darauf besteht, alle Möglichkeiten in der Kunst und im Leben zu berücksichtigen, stellt er auf spektakuläre Weise unter Beweis, dass sie alle in einem Stück zusammengeführt werden können."


So begann im Jahre 1993 die heute berühmte Presserezension von Frank Rich in der New York Times über die Broadway-Premiere des 1992 verfassten Bühnenstücks "Angels in America" von Tony Kushner , das die Bühne in zwei Teilen heimsuchte, das amerikanische Gegenwartstheater revolutionierte und neu definierte und zu DEM Theaterereignis der frühen 90iger Jahre in den USA wurde. 

Das Stück ist eine komplexe, oft metaphorische und bisweilen symbolische Auseinandersetzung mit AIDS , Homosexualität und rechtsreaktionärer Ideologie  in den Vereinigten Staaten der 1980er Jahre. Einige der acht Haupt- und noch mehr Nebenfiguren sind übernatürliche Wesen (Engel) oder verstorbene Personen (Geister). Das Stück enthält mehrere Rollen für mehrere Schauspieler. Die Handlung konzentriert sich anfangs hauptsächlich auf ein schwules und ein heterosexuelles Paar in Manhattan, hat aber mehrere zusätzliche Handlungsstränge, von denen sich einige gelegentlich überschneiden.


David Marshall Grant (als Joe Pitt) und Ron Leibman (Roy Cohn)


Marcia Gay Harden als Harper Pitt und Stephen Spinella als Prior Walter, 1993 am Broadway


Tony Kushner, der Autor von "Angels in America", Dramatiker vom Rang eines Shakespeare


Es gibt einen Broadway und ein amerikanisches Theater vor und nach Tony Kushners Mammutwerk "Angels in America", das aus den zwei inhaltlich zusammenhängenden Stücken "Angels In America: The Milennium Approaches" und "Angels in America: Perestroika" besteht, die unabhängig von einander in 2 unterschiedlichen Jahren jeweils mit dem Tony Award für das Beste Stück des Jahres ausgezeichnet wurden, Teil 1 darüber hinaus auch mit dem Pulitzerpreis.






Beide Teile sind in jeweils drei Unterkapitel unterteilt:

  • Kapitel 1: Schlechte Neuigkeiten (Bad News)
  • Kapitel 2: In Vitro (In Vitro)
  • Kapitel 3: Der Bote (The Messenger)
  • Kapitel 4: Keine Bewegung (Stop Moving!)
  • Kapitel 5: Die Waldfee (Beyond Nelly)
  • Kapitel 6: Der Himmel kommt näher (Heaven, I'm in Heaven

HARPER PITT:

Ich habe geträumt, dass wir dort waren. Das Flugzeug übersprang die Tropopause, die sichere Luft, und erreichte den äußeren Rand, das Ozon, das zerfetzt und zerrissen war, stellenweise fadenscheinig wie altes Käsetuch, und das war beängstigend. Aber ich sah etwas, das nur ich sehen konnte, denn ich habe die erstaunliche Fähigkeit, solche Dinge zu sehen: Seelen stiegen auf, von der Erde weit unten, Seelen der Toten, von Menschen, die umgekommen waren, durch Hunger, durch Krieg, durch die Pest, und sie schwebten hinauf, wie Fallschirmspringer im Rückwärtsgang, mit ausgestreckten Gliedern, sich drehend und wirbelnd. Und die Seelen dieser Verstorbenen fassten sich an den Händen, umklammerten die Knöchel und bildeten ein Netz, ein großes Netz von Seelen, und die Seelen waren dreiatomige Sauerstoffmoleküle, aus dem Stoff des Ozons, und der äußere Rand nahm sie auf und wurde repariert. Nichts ist für immer verloren. In dieser Welt gibt es eine Art schmerzhaften Fortschritt. Wir sehnen uns nach dem, was wir hinter uns gelassen haben, und träumen von der Zukunft. Zumindest glaube ich, dass das so ist.



Mary Louise Parker als Harper Pitt und Jeffrey Wright als Mr. Lies in der Verfilmung von 2003


 


Und was für ein Stück das war: 

Es mischte dialogstark und hochpoetisch einen rasiermesserscharfen politischen Kommentar zum Konservatismus der Reagan-Ära mit einer bestürzenden, erschreckend hoffnungsfrohen, Chronik der Aidskrise, der Heimsuchung durch Geister und einen Engel Gottes, jeder Menge surrealer Elemente, das alles als Ensemblestück von - an zwei Abenden - über 350 Minuten Laufzeit mit 8 Hauptrollen, in der alle Darsteller 3-5 verschiedene Figuren verkörpern müssen und das alle Möglichkeiten theatralen Gestaltens, vom intimen realistischen Kammerspiel, bis hin zum Spezialeffekt-Spektakel, das die Bühne sprengt, ad ultimo ausreizt.

1994 bezeichnete der Dramatiker und Professor für Theaterwissenschaften John M. Clum das Stück als „einen Wendepunkt in der Geschichte des schwulen Dramas, der Geschichte des amerikanischen Dramas und der amerikanischen Literaturkultur“.


Marcia Gay Harden als Harper Pitt, 1993




STIMMEN ZUM BÜHNENSTÜCK:

 

„Angels in America ist das umfassendste, tiefgründigste und durchdringendste amerikanische Theaterstück unserer Zeit“ - Jack Kroll, NEWSWEEK



„Ein riesiges, wunderbares Stück ... provokativ, witzig und zutiefst erschütternd ... ein suchendes und radikales Überdenken des amerikanischen politischen Dramas."-Frank Rich, THE NEW YORK TIMES



„Etwas Seltenes, Gefährliches und Erschütterndes ... eine römische Kerze, die in einen Salon geschleudert wird ... „-Nicholas de Jongh, LONDON EVENING STANDARD

 


Joe Mantello als Louis Ironson und Stephen Spinella als Prior Walter, 1993




„Verspielt und tiefgründig, extravagant theatralisch und zutiefst spirituell, witzig und mitfühlend, wütend und unglaublich klug ... Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand, der vom Anfang gefesselt ist, nicht zum Ende zurückkehren will und muss."-Linda Winer, NEWSDAY


„Ein enorm beeindruckendes Werk der Vorstellungskraft und des Intellekts, ein überragendes Beispiel dafür, was Theater, das sein volles Potenzial ausschöpft, erreichen kann“ -Clifford A. Ridley, PHILADELPHIA INQUIRER

 


„Perestroika ist ein Meisterwerk"-John Lahr, THE NEW YORKER


Ron Leibman als rechtsextremer Strippenzieher Roy Cohn


Das Theaterereignis wurde mit Tony-Auszeichnungen überhäuft (unter anderem kulminierten 14-Tony-Award Nominierungen für beide Teile, ausgezeichnet wurden unter anderem die Schauspieler Stephen Spinella und Ron Leibman), sein Autor Tony Kushner über Nacht zum Star und es selbst bald zur Legende. 

Und galt als völlig unverfilmbar. Das sagten alle.


Al Pacino als Roy Cohn mit Jeffrey Wright als Krankenpfleger Belize



BELIZE: 

Ich hasse Amerika, Louis. Ich hasse dieses Land. Nichts als ein Haufen großer Ideen und Geschichten und Menschen, die sterben, und dann Leute wie du. Der weiße Spinner, der die Nationalhymne schrieb, wusste, was er tat. Er hat die Note für das Wort „free“ so hoch angesetzt, dass niemand es erreichen kann. Das war beabsichtigt. Nichts auf der Welt klingt für mich weniger nach Freiheit. Kommen Sie mit mir in Zimmer 1013 im Krankenhaus und ich zeige Ihnen Amerika. Unheilvoll, verrückt und gemein. Ich lebe in Amerika, Louis. Ich muss es nicht lieben.


Eine Dekade verging. In ihr wurde Tony Kushner zum Lieblingsdrehbuchautor für Steven Spielberg, für den er "Lincoln", "München", "West Side Story" und "The Fabelmans" schrieb. Dann erschien der frühere Stand-Up-Comedian (im Duo mit Elaine May), Oscarpreisträger für die beste Regie ("Die Reifeprüfung"1967) und 8-fache Tony Award Preisträger für Regie (unter anderem auch für die Uraufführung von Neil Simons "Barfuß im Park" und "Ein seltsames Paar"), Mike Nichols. Und Nichols bewies, das alle anderen Unrecht hatten.


Mike Nichols, eine Kino- und Theaterlegende


Mike Nichols grandiose Verfilmung von "Angels in America" für HBO wurde das künstlerische Vermächtnis einer Regielegende (im Kino unter anderem "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" 1966,  "Catch 22" 1968, "Silkwood" 1983 und, und, und...), die bewies, das für den wahren Künstler - und das richtige Team - nichts, absolut nichts unmöglich ist.


STIMMEN ZUR VERFILMUNG:


"Dieses epische HBO-Werk - eine "Gay Fantasia on National Themes", wie der Untertitel von Tony Kushners Originalstück lautet - ist nach wie vor eine der beeindruckendsten amerikanischen Miniserien aller Zeiten. Die fast schon beschämend großartige Besetzung, darunter Al Pacino, Meryl Streep, Emma Thompson, Mary-Louise Parker, Jeffrey Wright, Justin Kirk, Ben Shenkman und Patrick Wilson, liefert durchweg überragende, karrierebestmögliche Leistungen als gewöhnliche Menschen, deren Ideale und konkurrierender Glaube durch die Ankunft der AIDS-Epidemie in New York auf den Kopf gestellt werden. "Angels" ist eine Meisterklasse darin, wie man ein kompliziertes Stück von der Bühne auf die Leinwand bringt und wie man das perfekte Ensemble formt und inszeniert."

RYAN LATTANZIO

"So wie es keinen wirklichen Präzedenzfall für die Leistung gab, die "Angels in America" im legitimen Theater darstellte, so gibt es nur wenige Verfilmungen von Bühnenwerken, die mit dem vergleichbar sind, was Mike Nichols mit Tony Kushners zweiteiligem Epos gemacht hat. Das Projekt fängt die Größe, die Dringlichkeit, die Poesie und den Humor des inszenierten Stücks vollständig ein."

VARIETY




Tom Shales

WASHINGTON POST:

 „Angels in America“ ist einer der schillerndsten Filme, die je für das Fernsehen oder eine andere Art der Filmvorführung gemacht wurden, aber er schillert nicht nur für das Auge, sondern auch den Geist."

                     .

Belinda Acosta

AUSTIN CHRONICLE:

"Die Darbietungen sind durch die Bank schamlos und atemberaubend großartig."

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Barry Garron

THE HOLLYWOOD REPORTER:

"Gesegnet mit einer virtuosen Besetzung, von der jeder einzelne Charaktere erschafft, die noch lange nach dem Abspann leben, verfolgen und fesseln."


Emma Thompson als Der Engel trifft 2003 auf Prior Walter (Justin Kirk)

 

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 Angie Errigo

EMPIRE MAGAZINE:

 "Nichols schafft eine berauschende Mischung aus Theaterspektakel und filmischem Stil in einigen spannenden, außergewöhnlich schönen Sequenzen, was zu einem poetischen, mitfühlenden, letztlich hoffnungsvollen Werk über die menschliche Verfassung an der Jahrtausendwende führt."

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Alessandra Stanley

THE NRW YORK TIMES:

"Mike Nichols' sechsstündige HBO-Adaption von Tony Kushners epischem Zweiteiler über AIDS in den 1980er Jahren war berauschend - kunstvolles Fernsehen, das die Zuschauer niemals nervte."

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Robert Bianco

USA TODAY:

"Angels in America ist nicht nur einer der besten Fernsehfilme, die je gedreht wurden - er ist auch ein transzendentes Kunstwerk. Angels zu sehen ist eine ekstatische Erfahrung, eine, die sowohl den Geist erhebt als auch ein Medium, das es so oft vorzieht, degradiert zu werden."

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David Wiegand

SAN FRANCISCO CHRONICLE:

"Es ist die Art und Weise, wie Nichols und Kushner die Drehbücher geöffnet und reduziert haben, die das definitive Bühnendrama des letzten Jahrzehnts zu einem meisterhaften, sehenswerten Filmereignis des neuen Jahrtausends macht."


Patrick Wilson als Joe Pitt und Ben Shenkman als Louis Ironson, 2003

 

.

Hal Boedeker

ORLANDO SENTINEL:

"Unter der Regie von Nichols erhält Angels in America seine endgültige Bearbeitung und entpuppt sich als lebendige, aber anstrengende Erfahrung. Die große Offenbarung ist die Besetzung, die beweist, dass es keinen Spezialeffekt gibt, der dem aus tiefster Seele erlebtem Schauspiel gleichkommt."

.

Matthew Gilbert

BOSTON GLOBE:

"Die von Tony Kushner perfekt für die Leinwand geschriebene Adaption ist ebenso pointiert, poetisch, phantastisch und bewegend wie die Vorlage - mit dem zusätzlichen Nervenkitzel einer filmischen Annäherung aus nächster Nähe."

 

Orgasmus nach dem Ringkampf mit dem Engel: Meryl Streep als Hannah Pitt


Diese 2003 entstandene absolut herausragende TV Miniserie nach den bahnbrechenden Bühnenstücken "Angels In America: Millenium Approaches" und "Angels in America: Perestroika" war ein wahres Fernsehereignis, und mit 21 Emmy Nominierungen (!!) und 11 Emmy Awards, sowie 5 Golden Globes eine der meist preisgekrönten TV Produktionen überhaupt. Ursprünglich in 6 Teilen über 6 aufeinanderfolgende Abende ausgestrahlt erreichte sie sagenhafte Einschaltquoten. Das Publikum klebte hypnotisiert sechs Abende  vor dem Bildschirm und konnte kaum fassen, welch ein hochpoetisches, tiefsinnliches Zauberwerk es da sah.

Die stark surreal angehauchte, ungemein komplexe Theaterverfilmung gewann unter anderem - erstmals und das einzige Mal - alle 4 Schauspiel - Emmys.

In den Hauptrollen sah man AL PACINO, MERRYL STREEP, EMMA THOMPSON, Justin Kirk, Patrick Wilson, Ben Shenkman, Jeffrey Wright (heute der Felix Leiter in Craig- "Bonds") und Mary Louise Parker ("Weeds"), das Drehbuch stammte von Tony Kushner selbst, die  atemberaubende Musik stammt von Oscarpreisträger Thomas Newman. 





Mike Nichols halsbrecherisch kühne Inszenierung brach alle damaligen Regeln für TV-Regie, ging ein selbstmörderisches künstlerisches Risiko nach dem anderen ein, sie wagte alles und gewann ALLES.


Emma Thompson als Der Engel


ROY COHN: AIDS. Homosexuell. Schwul. Lesbisch. Man denkt, das sind Namen, die einem sagen, mit wem eine Person schläft, aber das sagen sie nicht.

DR. HENRY: Nein?

ROY COHN:  Nein. Wie alle Bezeichnungen sagen sie dir eines, und nur eines: Wohin gehört eine so gekennzeichnete Person in die Nahrungskette, in die Hackordnung? Nicht Ideologie oder sexuellen Geschmack, sondern etwas viel Einfacheres: Einfluss. Es geht nicht darum, wen ich ficke oder wer mich fickt, sondern darum, wer zum Telefon kommt, wenn ich anrufe, wer mir Gefallen schuldet. Das ist es, worauf sich ein Etikett bezieht. Für jemanden, der das nicht versteht, bin ich ein Homosexueller, weil ich Sex mit Männern habe, aber das ist wirklich falsch. Ein Homosexueller ist jemand, der trotz 15-jähriger Bemühungen nicht in der Lage ist, ein beschissenes Antidiskriminierungsgesetz durch den Stadtrat zu bringen. Ein Homosexueller ist jemand, der niemanden kennt und den niemand kennt. Der null Einfluss hat. Hört sich das nach mir an, Henry?


Traumsequenz in Priors Kopf.



Prior trifft in einem  Fieber-Traum a la Jena Cocteau auf Harper Pitt, 2003


Die Geschichte zieht eine bitter-ironische Bilanz der US-Gesellschaft in den 1980er-Jahren. Hauptthemen sind dabei die Reagan-Ära und das Aufkommen von AIDS.

Die Handlung,  die 1985/86 spielt, teils auch in anderen Dimensionen, verläuft hauptsächlich in drei verschiedenen kunstvoll ineinander verwobenen Handlungssträngen und nutzt sowohl historische Persönlichkeiten (wie den Rechtsextremen Anwalt Roy Cohn) wie auch fiktive Figuren. 

Zum einen ist da Prior Walter (Justin Kirk). Er ist an AIDS erkrankt, sein Freund Louis (Ben Shenkman) verlässt ihn, weil er mit der Situation nicht fertig wird. Als nächstes wäre da Anwalt Joe Pitt (Patrick Wilson), welcher zwar mit der tablettensüchtigen Harper (Mary Louise Parker) verheiratet ist, aber heimlich seine schwulen Bekanntschaften sucht. Der dritte Handlungsstrang konzentriert sich auf den Topanwalt Roy Cohn (AL PACINO),  den Mentor von Donald Trump, einer Personifikation des korrupten Rechtssystems der USA. Der rechtsreaktionäre Republikaner ist ebenfalls mit der Immunschwächekrankheit infiziert.

In diesen einzelnen, komplex verwobenen Geschichten tauchen noch viele weitere Personen auf, so beispielsweise die Mutter von Pitt (MERYL STREEP), die ihr Haus in Salt Lake City verkauft und nach New York reist, als sie von der Homosexualität ihres Sohnes erfährt. Und dann wäre da noch Belize (Jeffrey Wright, das einzige Mitglied das aus der Original Broadway-Aufführung übernommen worden war), Krankenpfleger von Roy Cohn und bester Freund von Prior. Nicht zu vergessen sind die Engel (EMMA THOMPSON), die immer wieder auftauchen - denn Gott hat mit Prior ausgerechnet - oder besonders? - einen aidskranken Schwulen zum Propheten wider Willen auserwählt – der eine einzige Botschaft an die Menschheit überbringen soll: „Stop Moving“- beendet den Fortschritt, haltet ein....


Meryl Streep als Rabbi Chemelwitz


In der Verknüpfung der einzelnen Handlungsstränge rechnen Stück und Film tief bewegend und zugleich sehr humorvoll, anspielungsreich sprachgewaltig & auf hohem intellektuellen Niveau mit religiösem Fanatismus, der aufkommenden Aids-Hysterie, Diskriminierungen verschiedenster Arten und überhaupt fundamentalen zwischenmenschlichen Verhaltensmustern ab und zeichnet wie nebenbei das pralle barocke Bild einer reaktionären Epoche.


Patrick Wilson und Al Pacino: Verführung nach rechts, oder nur zum tet-a-tet?



LOUIS IRONSON: Oh, Boy. Ein schwuler Republikaner.

JOE PITT: Wie bitte?

LOUIS IRONSON: Nichts.

JOE PITT: Oh, ich bin nicht... nein, vergessen Sie es.

LOUIS IRONSON: Nicht... Republikaner? Nicht republikanisch?

JOE PITT: Was?

LOUIS IRONSON: Was.

JOE PITT: Nicht schwul. Ich bin nicht schwul.

LOUIS IRONSON: Ach so. Entschuldigung. Es ist nur so, dass man das manchmal an der Art, wie eine Person klingt, erkennen kann. Ich meine, Sie klingen...

JOE PITT: Nein, tue ich nicht. Wie denn?

LOUIS IRONSON: Wie ein Republikaner.

JOE PITT: Klinge ich wie ein...?

LOUIS IRONSON: Was? Wie ein Republikaner? Oder tue ich das?

JOE PITT: Tun Sie was?

LOUIS IRONSON: Klingen wie ein...

JOE PITT: Ja. Wie ein... Ich bin verwirrt.

LOUIS IRONSON: Ja. Mein Name ist Louis, aber alle meine Freunde nennen mich Louise. Ich arbeite in der Textverarbeitung. Danke für das Toilettenpapier.

(Joe will etwas sagen, aber Louis drückt ihm noch schnell einen Kuss auf die Wange, bevor er geht und Joe leicht schockiert zurücklässt)


Einen besonderen Genuss bieten neben den furiosen Dialogen, den ausnahmslos brillanten Schauspielern und den Abstechern ins Surreale, Verfremdete, die Mehrfach-Rollen. So erlebt man etwa MERYL STREEP als strenggläubige Mormonenmutter mit Herz die sogar mit einem Engel wrestlet, als Ethel Rosenberg (ein historisches Justizopfer Cohns) die Roy Cohn am Totenbett als Geist quält und als jiddisch sprechenden greisen Rabbi!

Nichols, assistiert von Casterin (und Oscarpreisträgerin) Juliet Taylor, fand und formte ein perfektes Ensemble, das unter seinen Händen künstlerisch regelrecht explodierte. Er trieb die damals unbekannten Bühnenschauspieler Jeffrey Wright (später Felix Leiter in den Bond-Filmen mit Daniel Craig, 2024 war er für "American Fiction" als Bester Hauptdarsteller für den Oscar nominiert) , Patrick Wilson (heute ein Kinostar bekannt aus "Watchmen", den "Conjuring" und "Insidious"-Filmen) , Ben Shenkman, Justin Kirk und Mary Louise Parker (später ein TV-Star durch die Serie "Weeds") zu unvergesslichen Darstellungen, die allen Genannten zum internationalen Durchbruch verhalfen und führte die Stars Thompson, Pacino und Streep zu ehrfurchtgebietenden Karriere-Bestleistungen.


Louis (Ben Shenkman) und Prior (Justin Kirk), dem Propheten des Herrn

Vor allem aber tat Nichols das, was Kushner im Theater getan hatte: Er nutzte die Möglichkeiten des Mediums aber auch der Technik voll aus: Radikal, kompromisslos, völlig furchtlos und ohne Angst vor der Größe des Epos das er verfilmte. Er fühlte sich nur seinem Ensemble verpflichtet und der Geschichte, die er erzählte. Dabei betrat er Neuland und definierte die Regeln dafür, was TV konnte, was es sollte und wie weit man gehen konnte, neu. "Angels in America" wirkte bahnbrechend, hob Sehkonventionen aus den Angeln und setzte einen völlig neuen künstlerischen Maßstab für Fernsehen, der bis heute gültig ist.

"Angels in America" hat noch heute, über zwei Jahrzehnte später, die Kraft sein Publikum emotional und intellektuell total zu überwältigen. 

Der Mehrteiler gewann rekordbrechende 11 Emmys (bei 21 Nominierungen, ebenfalls Rekord) für

  • Beste Miniserie/Fernsehfilm,
  • Drehbuch,
  • Regie,
  • Hauptdarsteller (Al Pacino, auch Golden Globe),
  • Hauptdarstellerin (Meryl Streep, auch Golde Globe),
  • Nebendarsteller (Jeffrey Wright ,auch Golden Globe),
  • Nebendarstellerin (Mary Louise Parker, auch Golden Globe),
  • Make -Up,
  • Tonschnitt,
  • Austattung und
  • Casting.


Weitere 10 (!) Nominierungen umfassten:

  • Hauptdarstellerin (Emma Thompson),
  • Nebendarsteller (Justin Kirk),
  • Nebendarsteller (Ben Shenkman),
  • Nebendarsteller (Patrick Wilson),
  • Titeldesign,
  • Schnitt,
  • Spezialeffekte,
  • Kamera
  • Kostümdesign.


Das Stück wurde nie neu verfilmt - wie auch? Von wem auch? Warum auch? - aber mehrmals neu inszeniert 2010 und 2018 auch am Broadway. Die Neuinszenierung beider Teile durch Marianne Elliott von 2018 mit Andrew Garfield als Prior Walter und Nathan Lane als Roy Cohn, brach mit 11 Tony Award-Nominierungen ebenfalls den für Sprechtheaterstücke bis dato geltenden Rekord.


Andrew Garfield 2018 als Prior Walter am Braodway


Am 11. Juni 2018 schrieb Constance Grady in VOX über die Neuinszenierung:


"In den späten 80er Jahren erfüllte die Epistel des Engels zwei Funktionen: Emotional war es der verzweifelte Schrei von Prior, der wollte, dass sich die Welt nicht mehr verändert, dass sie in die Zeit zurückkehrt, bevor er AIDS hatte und sein Freund ihn verließ. Und politisch stand es für eine reaktionäre Kultur, die Homosexuelle nicht akzeptieren wollte, die sie einer schrecklichen Seuche überlassen wollte.

Aber im Jahr 2018, in dem die Panik über Trumps Einreiseverbote in vollem Gange ist, schwingt die Anti-Migrations-Epistel anders mit. Es ist nicht mehr nur der Aufschrei einer Kultur, die die Uhr zurückdrehen will, um so tun zu können, als gäbe es keine Homosexuellen. Jetzt ist es der Aufschrei einer Kultur, die Amerika wieder "great again" machen will, die die Uhr zurückdrehen will, damit niemand außerhalb eines Monolithen innerhalb seiner Grenzen existieren kann: keine Homosexuellen und auch keine Schwarzen und Braunen."




Im Moses-Mantel von Charlton Heston: Prophet Prior steigt in den Himmel, 2003


PRIOR WALTER:

Aber trotzdem. Segnet mich trotzdem. Ich will mehr Leben. Ich kann nichts dafür. Ich will es. Ich habe so schreckliche Zeiten erlebt, und es gibt Menschen, die viel Schlimmeres durchmachen. Aber man sieht sie trotzdem leben. Wenn sie mehr Geist als Körper sind, mehr Wunden als Haut, wenn sie verbrannt sind und Schmerzen haben, wenn Fliegen Eier in die Augenwinkel ihrer Kinder legen - sie leben. Normalerweise muss der Tod das Leben wegnehmen. Ich weiß nicht, ob das nur das Tier in uns ist. Ich weiß nicht, ob es nicht mutiger ist zu sterben, aber ich erkenne die Gewohnheit, die Sucht, am Leben zu bleiben. Wir leben also über die Hoffnung hinaus. Wenn ich irgendwo Hoffnung finden kann, dann ist das alles, das ist das Beste, was ich tun kann. Das ist so sehr ...„nicht genug“. Es ist SO unzureichend. Aber segnet mich trotzdem. Ich will mehr Leben. Und wenn Gott zurückkommt, bringt ihn vor Gericht. Er hat uns im Stich gelassen, er soll bezahlen!




Heute, da dieses Amerika einen Faschisten gewählt hat, der über dem Gesetz steht und dessen Demokratie abschaffen will, spricht "Angels in America", 33 Jahre nach seiner Geburt und 21 Jahre nach der Verfilmung immer noch zu uns. Im Anbruch einer neuen dunklen Zeit ist es bedeutender, aktueller und überlebensnotwendiger als jemals zuvor.


Ethel Rosenberg (Meryl Streep) singt in der Todesstunde für ihren Justizmörder




Die Worte, mit denen Frank Rich 1993 seine Rezension abschloss, sie gelten noch immer:

"Deshalb scheint jede Debatte darüber, was dieses Stück für den Broadway bedeutet oder nicht bedeutet, angesichts des Werks selbst völlig nebensächlich zu sein. „Angels in America“ ist so kraftvoll, weil etwas viel Größeres und Dringenderes auf dem Spiel steht als die Zukunft des Theaters. Es ist wirklich die Geschichte, die Kushner aufbrechen will. Er schickt seinen eindringlichen Boten, einen spindeldürren, verlassenen schwulen Mann mit heldenhaftem Geist und einem verwüsteten Körper, tief ins Herz des Publikums, um die Frage zu stellen, wer wir sind und was wir aus diesem Land machen wollen, während die Seuche weitergeht und das Jahrtausend naht."



Bewegendes Schlussbild unter der Waldfee im Central Park: Benk Shenkman, Meryl Streep,
Justin Kirk und Jeffrey Wright


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