Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Mittwoch, 18. Januar 2017

TONI ERDMANN (2016) VON MAREN ADE



Ein Film erhält in Cannes im Kritikerspiegel die Durschnittswertung von 3,8 von 4 Punkten – die höchste Wertung in der Geschichte der Filmfestspiele von Cannes – und gewinnt dann keine der neun Auszeichnungen?

Das muss ein deutscher Film sein. Richtig. Und WAS für einer!


Bei den Filmfestspielen von Cannes sorgte „Toni Erdmann“ diesen Sommer für eine Sensation. Zunächst nur als Beitrag in der Reihe „Un Certain Regard“ gedacht und buchstäblich über Nacht in den offiziellen Wettbewerb aufgenommen, schlug der Film, der erste deutsche Beitrag seit fast einer Dekade, ein wie eine Bombe, erhielt nicht nur rauschende Standing Ovations (siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=VktOPzGtPWQ) , sondern auch, in Cannes nie zuvor geschehen, mehrfachen spontanen Szenenapplaus. 

In Cannes dennoch bei allen Hauptpreisen völlig übergangen, begann der erstaunliche Film einen Siegeszug: Er gewann den Kritikerpreis der Filmfestspiele von San Sebastian, den renommierten Preis der New Yorker Filmkritiker, Drei Auszeichnungen auf dem Filmfestival von Brüssel; Preise für den Besten Auslandsfilm, die beste Hauptdarstellerin und die beste Regie der Filmkritiker von Toronto, sowie gleich 5 europäische Filmpreise (Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Hauptdarstellerin. Siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=Z-aQtF5piMI ) – auch das gelang noch keinem deutschen Film zuvor. Die beiden bedeutendsten Filmkritikerpublikationen der Welt „Cahiers du Cinema“ und „Sight and Sound“ nennen ihn in ihren Top Ten Listen für 2016 mit weitem Abstand auf Platz Eins.“Toni Erdmann“ ist nominiert für den Golden Globe als Bester Auslandsfilm, und auf der Shortlist für den Oscar in derselben Kategorie. Da geht noch was…

Worum es geht: Winfried Conradi (Peter Simonischek) ist ein sensibler Musiklehrer und Alt-68er mit Hang zu infantilen Scherzen, der mit seinem alten Hund zusammenlebt. Seine Tochter Ines (Sandra Hüller) hingegen ist das Gegenteil: Als ehrgeizige Unternehmensberaterin in einem brutalen Business reist sie um die Welt, um die Karriereleiter, immer entseelter, nach oben zu klettern. Vater und Tochter sehen sich daher fast nie, aber das wird schlagartig anders, als Winfrieds Hund stirbt und er daraufhin beschließt, Ines, wie zuvor im Scherz angekündigt, bei der Arbeit in Bukarest zu besuchen. Wegen der Unvereinbarkeit der beiden Lebensentwürfe kracht es schon bald zwischen den Beiden. Der Überraschungs- Besuch endet im Desaster. Als Winfried bemerkt, dass Ines in Wirklichkeit zutiefst unglücklich und verzweifelt ist, verwandelt er sich, um sie zu retten, mit falschem Loriot-Gebiss und langer Billigperücke in ein anarchisches Alter Ego , Personalcoach „Toni Erdmann“ , wahlweise auch „Ambassador Erdmann“, und beginnt ihr Leben aufzumischen. Aber so richtig….

Mag man zu Beginn des Films noch denken, man bekomme hier einen Film in typischer deutscher TV-Ästhetik serviert, ohne kinogerechte Bildsprache, so wird sehr schnell klar, dass es sich um Absicht in einem bis auf den Punkt durchdachten ästhetischen Konzept handelt. Keine künstliche Bildgestaltung, zurückhaltender Schnitt und eine Schauspielführung die ein so hohes Niveau an Unverfälschtheit und Natürlichkeit erreicht, dass der Spielvorgang komplett unsichtbar wird – all das spielt zusammen um dem Zuschauer keinerlei Raum zur Distanzierung zu lassen. Der Betrachter soll vergessen, dass er betrachtet, sondern regelrecht (mit-) erleben. „Toni Erdmann“ leistet das – und mehr.
Mit den Mitteln einer bizarren, scharfen Komik entlarvt der Film, in Szenen, die gerade die unerträglichen, peinlichen Momente des Lebens in einer so extrem zugespitzten und schonungslosen Weise ausleuchten, dass man streckenweise schallend lacht, und streckenweise kaum hinsehen kann (aber auch nicht wegsieht, fühlt man sich doch den Figuren nah, als stünde man direkt im selben Zimmer), unsere pervertierte Leistungsgesellschaft die menschliche Wesen zu Nützlichkeitsfaktoren erniedrigt. Vergeblich wartet man auf die gewollte bleierne Schwere klassischer deutscher arthouse Filme, auf das geraunte, bedeutungsschwangere Gefasel des deutschen Durchschnittsdramas. „Toni Erdmann“ der mühelos über seine komplette Laufzeit trägt ist stets spritzig, frisch, überraschend und sogar in seiner Härte federleicht. Am ehesten könnte man Maren Ades couragiertes Werk als ein erfrischendes „Packerl Watschen“ der emotionalen und intellektuellen Art beschreiben.

Unmöglich zu übersehen mit welcher Exaktheit, welcher punktgenauen Präzision die Handlung ausgearbeitet und gebaut ist, auch wenn Vieles so ehrlich gespielt ist, das es wie improvisiert wirkt. Man sieht die Handschrift einer glänzenden Minimalistin. Es ist ein Film in dem es nicht einen einzigen falschen Ton gibt. Alle Details stimmen, bis zu Kleinigkeiten, z.B. Winfrieds herrlich falschem Englisch. Beachtlich wie gelassen sich Ade Zeit für Momente nimmt, sie stehen und nachwirken lässt, den stillen Prozessen in den Herzen und Hirnen der Darsteller zusieht. Auch dadurch wird der Film über weite Strecken zur emotionalen Achterbahnfahrt. Auf Englisch würde ich sagen: she creates room to let those things said and unsaid linger in everyones imagination. Regelrecht kühn viele Einfälle (Stichwort spontane Nackt-Party, Stichwort „Whitney Schnuck“, Stichwort „Petit Fours“- Szene). „Toni Erdmann“ ist ein Film der über seine gesamte Laufzeit niemals auf Nummer Sicher spielt, sich einen Kehricht um guten Geschmack , um Seherwartungen scheißt, in allen künstlerischen, inszenatorischen Entscheidungen, wie im Inhalt selbst, alles auf eine Karte setzt und bis zum Ende des Abspanns volles Risiko fährt. Das führt entweder zur totalen Katastrophe oder zum Triumph. In diesem Fall, sagen wir es offen, ist es ein Triumph.

Das liegt auch an der durchwegs glänzenden Besetzung, aus der, naturgemäß die beiden Hauptdarsteller herausragen. Sandra Hüller spielt umwerfend, mit einem Mut zur Selbstentblößung, zur darstellerischen Ehrlichkeit, der einem fast an die Gurgel geht. So ungeschützt lassen sich selbst die besten Schauspieler selten auf eine Figur ein, weil es schwierig und gefährlich ist. Hüller zeichnet ihre Figur mit einer schier unbegrenzten Bandbreite an Nuancen. Sie findet die Stellen, in dem kalten Menschen, der Ines geworden ist, die ihn liebenswert und sympathisch machen. Selten konnte man sich so im Gesicht eines Menschen auf der Leinwand verlieren. Nicht minder großartig die erstaunliche tour de force die der gelegentlich ans TV verschwendete Burgtheater-Mime Peter Simonischek als Winfried Conradi/Toni Erdmann abliefert. Welten spielen sich ab hinter diesen Augen, und er nimmt einen in jede Einzelne davon mit. Grandios wie er die Oneliner präzise, geschliffen und doch wie zufällig raushaut, wie er die Überforderung seiner Figur sichtbar macht, wie er sich und die Figur(en) die er spielt, in aller Verletzlichkeit bis ins Allerinnerste, bis zum Anschlag öffnet.

Man könnte diesem Duo, das hier Tennis der Gefühle vom Allerfeinsten miteinander spielt, unbegrenzt dabei zusehen. Auch deshalb wirkt der Film nie so überlang, wie er objektiv betrachtet ist, auch deshalb fallen manche Wiederholungen nicht ins Gewicht, und auch deshalb vermisst man nie eine stärkere Struktur und Formgebung durch die Regie.

Dass der Film auch spaltet und einen Teil des Publikums verprellt liegt dabei natürlich auch in der Natur der Sache. Er ist so risqué und so zugeschnitten auf ein spezifisches Publikum, mit einem spezifischen Geschmack, spezifischen Fähigkeiten Film und Darstellende Kunst „zu lesen“, einer speziellen Sensibilität die den Zugang ermöglicht, dass ein Teil des Publikums außen vor bleibt und, aus seiner Sicht völlig zurecht, nichts damit anfangen kann. Dies zuzulassen war eine bewusste Entscheidung der Drehbuchautorin und Regisseurin, und sie wird mit den entsprechenden Reaktionen leben müssen.

„Toni Erdmann“ ist ein weniger Film als Erlebnis, er geht dorthin wo es wehtut, und bleibt dort, bis man darüber lachen muss. Einer der besten deutschen Filme der letzten Jahrzehnte, einer der einem lange im Gedächtnis bleibt. Einer der bewirkt, dass man beim Abspann baff sitzen bleibt und sich aufs Neue in „Plain Song“ von The Cure verliebt.
(Siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=YSaNXpD49Qw)

Fazit: Absolut waghalsige, hochoriginelle und extrem extravagante Melange aus bizarrer Gesellschaftssatire und intensivem Vater-Tochter-Drama, rasiermesserscharf inszeniert. Von Simonischek und Hüller umwerfend und mit grenzenlosem Mut gespielt.

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