Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Samstag, 11. Februar 2023

"Versprechen Sie es? Bei ihrer Seligkeit?": ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG (1958)

 





Es ist der letzte Diensttag des kaltherzigen Schweizer Kriminalkommissars Matthäi, der kurz davorsteht einen neuen Posten in Jordanien anzutreten, als er in den Fall um die ermordete achtjährige Gritli Moser gezogen wird: Instinktiv überzeugt, dass der verdächtigte Hausierer Jacquier (Michél Simon) das Kind nur gefunden, aber nicht getötet hat, nimmt er dennoch zunächst die Kinderzeichnung des Opfers nicht ernst, die das kleine Mädchen mit einem Riesen im Wald zeigt. 

Verzweifelt: Hausierer Jacquier (erschütternd: Michel Simon)


Nach dem Selbstmord Jacquiers, den man zum Geständnis trieb, schließt die Kriminalpolizei den Fall Moser ab. Als Matthäi jedoch im Flugzeug plötzlich, in maßlosem Entsetzen, ein bislang mysteriöses Detail aus Gritlis Zeichnung wiedererkennt, keimt in ihm schlagartig ein Verdacht: Was, wenn das Bild eine reale Begegnung mit dem diabolischen Sexualmörder zeigt, einem Mann ganz in schwarz, der das Mädchen später in den Wald gelockt und ermordet hat? Dann müsste Gritli ihrem Mörder mindestens einmal vor der Tat begegnet sein. 

Auf Täterjagd: Kommissar Matthäi (Rühmann) und Polizeipsychologe Manz (Ewald Balser)


Da seine ehemaligen Vorgesetzten den Fall nicht wieder aufnehmen wollen, folgt Matthäi, der der Mutter des Opfers „bei seiner Seligkeit“ versprochen hatte den Mörder ihrer Tochter zu finden, auf eigene Faust der Spur des unheimlichen Kindermörders (Gert Fröbe, in der Rolle die ihm später den Part des „Goldfinger“ einbrachte) der in mehreren Kantonen sein Unwesen treibt, und stellt ihm schließlich eine lebensgefährliche Falle - mit einem lebendigen Köder......



Poetische Gerechtigkeit: Überführt die kleine Gritli mit ihrer Zeichnung
posthum den eigenen Mörder?

 

„Im Jahre 1957 bekam Dürrenmatt von dem Filmproduzenten Lazar Wechsler von der Praesens Film AG in Zürich den Auftrag, ein Filmdrehbuch zu schreiben. Dürrenmatt nahm diesen Auftrag an und schrieb zuerst das Exposé für den Film, dann eine Novelle und schließlich das Drehbuch, aus dem später einer der erfolgreichsten Schweizer Filme überhaupt entstehen sollte. „Das Anliegen der Produzenten des Films war es, die Öffentlichkeit für die zunehmenden Gewalttaten gegen Kinder in dieser Zeit zu sensibilisieren, Eltern zu warnen, ihre Kinder nicht allein durch einsame Straßen und dunkle Orte zu schicken. Dürrenmatt erklärte sich bereit, das Drehbuch für den Film zu schreiben. Heraus kam ein Streifen, der sicherlich als guter Kriminalfilm mit hervorragenden Schauspielern ‚durchgeht’ und auch heute noch sehenswert ist.“[1] Warum sich Friedrich Dürrenmatt entschied, an dem Drehbuch des Films mitzuarbeiten, erklärt er in der Weltwoche vom 18. Januar 1957: „Die Idee, mit jedem Film die Menschheit beglücken zu wollen, lasse man fahren. Wird dies gewagt, liegen die Stoffe auf der Strasse. Die guten Stoffe, denn nur die liegen dort.“[2] Nicht ohne Aufmerksamkeit bleibt auch ein Bericht, den die Zeitschrift Die Tat am 20. Januar 1958 präsentiert: „Im Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an der 14-jährigen Doris Heidt ist daran zu erinnern, dass im Jahr 1956 ein 16-jähriges Mädchen unter ähnlichen Umständen ums Leben gekommen ist. Der Fall blieb unaufgeklärt.“[3] Im Roman heißt es: „Wir haben mehr als zweihundert Fälle im Kanton im Jahr“[4] und im Film hört man dasselbe.


Das Drehbuch entsteht während einer zweimonatigen Zusammenarbeit von Ladislao Vajda und Friedrich Dürrenmatt. „Dann gewann der Produzent Heinz Rühmann als Hauptdarsteller und der setzte durch, dass Hans Jacoby das Drehbuch nach seinen Wünschen umschrieb.“


 So beschreibt Kateřina Pejchalová in ihrer bemerkenswerten Diplomarbeit (https://is.muni.cz/th/ztv8s/hotova_bakalarka_durrenmatt.doc) die Genese des Films.






Das Ergebnis war ein intensives, atmosphärisch düsteres Meisterwerk des deutschsprachigen Kinos der 50iger Jahre, das auch nach über 60 Jahren noch Gänsehaut garantiert.


 




Geradezu genialisch schlüsselt der Film auf, wie Kommissar Matthäi, wider jede Erwartung, durch eine Kette von Zufällen und kriminalistischer Kombinationsgabe dem geheimnisvollen Mörder auf die Spur kommt. Fröbe und Simon (er spielte auf Deutsch, was er kaum sprach) spielen absolut überragend, Rühmann gibt als eiskalter Ermittler, der sich in seinem eigenen Versprechen fängt und letztlich eine Katharsis erlebt, die beste Leistung seiner Karriere.






Matthäi setzt das Leben der kleinen Annemarie (Anita von Ow) aufs Spiel


 

Die extrem straffe Inszenierung von Ladislao Vajda fasste diesen mitreißenden Thriller stringent in die visuelle Stilistik des Film Noir. Der Schwarzweiß-Film arbeitet, in der impressiven Kameraführung von Heinrich Gärtner (dessen Karriere bereits 1914 begann und später unter anderem „Das Geheimnis des Marcellino“ und „Der Hund der Herr Bozzi hieß“ umfasste) stark und stilisiert mit Licht und Schatten, er sucht die Düsternis und kehrt das Unheilschwangere aus den Schweizer Naturlandschaften hervor, die das grauenvolle Geschehen drohend überschatten.


 

Unerhört im deutschen Film der 50iger: Film Noir Stilistik vom Feinsten



Diese Wirkung wird, verstärkt durch den brillanten dramaturgischen Aufbau, zum hypnotischen Sog, nicht zuletzt, dank der wuchtigen, treibenden Filmmusik von Bruno Canfora: 








Dramaturgisch zerfällt „Es geschah am hellichten Tag“ in drei Teile, die einer perfekten Spannungssteigerung dienen. Dem ersten Teil um die Entdeckung der Leiche des Gritli Moser und die Beschuldigung des Hausierers, dem zweiten in dem Matthäi auf eigene Faust detektivisch beginnt, nach dem „schwarzen Mann“ zu ermitteln, um dem dritten Teil, in dem, teils parallel montiert, der Hintergrund des Kindermörders der Falle gegenübergestellt wird, in die er gehen soll. Erst nach etwa einer Stunde tritt Fröbes Figur erstmals auf und auch dann zunächst nur als stimmgewaltiger Schatten an der Wand, der kein Gesicht hat. Dadurch, dass bis dahin so lange nur unheilschwanger über den geheimnisvollen Mann, den es vielleicht, vielleicht auch nicht, gibt, gesprochen wird, wird diese Figur enorm, fast mythisch überhöht; Fröbes Darstellung ist allerdings, trotz weniger Szenen, so gewaltig, dass sie diesem Vorbau gerecht wird und ihn krönt.


Unvergessliches Porträt einer tragischen Bestie: Gert Fröbe

 

In weiteren Rollen sind Heinrich Gretler, Ewald Balser, Siegfried Lowitz, Sigfrit Steiner und Götz Georges Mutter Berta Drews, unvergesslich als monströse Frau Schrott, zu sehen.

Die bemerkenswert unbefangenen Kinderdarsteller Anita von Ow und Barbara Haller wurden damals über die wahre Natur der Handlung im Unklaren gelassen – ihnen erzählte man, der Film handele von einem bösen Zauberer.

Was in poetischer Dimension betrachtet nicht einmal gelogen war.


Herr Schrott geht wieder "Bummern"....

 

In der wichtigen Rolle der Frau Heller, Mutter der kleinen Annemarie, war ursprünglich die Schweizerin Anneliese Betschart vorgesehen, als Wolfgang Staudte noch Regie führen und Martin Held den Kommissar Matthäi spielen sollte.

Mit Einstieg von Ladislao Vajda als Regisseur, kickte man Betschart aus der Rolle und verpflichtete sie stattdessen für den Kurzauftritt als Schullehrerin und als deutsche Synchronstimme der Heller, die dann von Rosa Maria Salgado gespielt wurde – der damaligen Lebensgefährtin des spanischen Co-Produzenten.

US-Plakat des Klassikers

 



Unter dem Titel „It happened in broad Daylight“ entstand 1960 eine englische Synchronfassung für die USA, in der die Rolle des Psychiaters extra mit Roger Livesey nachgedreht wurde. Diese Fassung wurde von den amerikanischen Rezensenten regelrecht abgeschlachtet und starb in Übersee einen raschen Tod an den Kinokassen.

In Spanien hingegen, wo der Film den damaligen spanischen Filmpreis, Premio Sant Jordi, in den Kategorien Bester Film des Jahres, Beste Regie, Bestes Drehbuch und Beste Kamera gewann, wurde der Ausnahmekrimi unter dem Titel „El Cebo“ (Der Köder) fast so legendär wie in den deutschsprachigen Ländern – und zu einem Lieblingsfilm des jungen Pedro Almodovár.


 

Spanisches Originalplakat eines Ausnahme-Thrillers



Bahnbrechend war „Es geschah am helllichten Tag“ , der im Juli 1959, also vor 64 Jahren, Premiere in der Schweiz feierte, für seine Zeit nicht nur thematisch und stilistisch, sondern weil er in der Abhandlung dieses Themas weit über seine Zeit hinausweist – ein moralisch mehr als abgründiger Ermittler, ein psychologisch exakt gezeichneter Serienmörder, ein Tätertypus für den es 1958 noch gar keine Bezeichnung gab, ein `Profiler´ bei der Arbeit, die es damals ebenso offiziell noch gar nicht gab (auch wenn psychologisch mittlerweile Vieles aus dem Film überholt ist und sich durchaus sexistische Klischees finden).


Das erste Täterprofil der Filmgeschichte



Italienisches Plakat. Dort hieß der Film "Das Monster von Mägendorf"

 

Es handelt sich um die wohl erste Mördersuche anhand eines Täterprofils in der Geschichte des Kriminalfilms. Hier wird visionär eine Grundlage gelegt, die spätere Werke, mal wissend, mal unwissend, wieder aufgriffen.

Vor allem aber ist „Es geschah am hellichten Tag“ ein Film, der, damals radikal, mit dem klassischen Gut-und-Böse-Schema bricht und letztlich von einer heilen Welt erzählt, die ihre Unschuld verliert.


Henzi (Siegfried Lowitz) und Matthäi (Rühmann) verhindern einen Lynchmord der Bauern



Schokoladenbildchen aus unbekannter Hand. Der des Serienmörders?


 

Kein Wunder: Es handelte sich bei der deutsch-schweizerisch-spanischen Produktion um die Verfilmung eines Originaldrehbuchs von Friedrich Dürrenmatt, das, wie erwähnt, vor der damals erst neu erkannten Gefahr von Sittlichkeitsverbrechen an Kindern warnen sollte. Für Deutschland co-produzierte ungenannt Legende Artur Brauner.

Dürrenmatt, der Hans Jacoby als Co-Autor zur Seite gestellt bekam, lieferte ein Skript auf Simenon-Niveau, mit kargen, rasiermesserscharf geschliffenen Dialogen – aber er hasste den Filmtitel (er wollte entweder „Schrott geht bummern“ oder „Gott schlief am Vormittag“), sowie den Schluss und überhaupt das Filmmedium und distanzierte sich später.






 

Auf der Grundlage seiner eigenen Vorstellungen zum Stoff schrieb er später den Roman „Das Versprechen“ ,der dieselbe Geschichte deutlich geändert erzählt, mit dem Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“, eine Gattung die Dürrenmatt als Literat gleichfalls verachtete.

Dieser Roman wurde 1979 als „La Promessa“ in Italien, 1990 als „Szürkület“von György Feher in Ungarn, 1996 als „Tod im kalten Morgenlicht“ mit Richard L. Grant für die Niederlande und 2001 in den USA als „Das Versprechen“ von Sean Penn, mit Jack Nicholson in der Rühmann-Rolle neu verfilmt.









 



Als „Es geschah am helllichten Tag“ inszenierte Nico Hofmann nach einem Drehbuch von Bernd Eichinger 1997 ein erstaunlich gutes TV-Remake des Kinofilms mit Joachim Krol und Axel Milberg fürs deutsche Fernsehen.


 




Hier findet sich ein Hintergrundbericht über die Dreharbeiten zum Original, geschildert im Rückblick teils durch Zeitzeugen:

https://www.nzz.ch/die_tankstelle_war_ein_bauernhof-1.797630

Ein ganz besonders reichhaltiges und toll bebildertes Porträt des Filmes findet sich hier (Wer den Film noch n i c h t kennen sollte, sollte unbedingt über die Inhaltsangabe hinweg scrollen), auf der Seite finden sich neben den vollständigsten Angaben zum Produktionsstab die verfügbar sind, nie gesehenen Backstage und Promo-Fotos, Plakaten in mehreren Sprachen und den detaillierten Erinnerungen des damaligen Produktionsassistenten, auch als Download die Scans von Produktionsnotizen und des kompletten (!) Drehbuchs von 1958, gehalten in einem nicht mehr gebräuchlichen Drehbuchformat:

http://www.cyranos.ch/sfegah-d.htm







Fazit:

Meisterhafter psychologischer Thriller, mit literarischem Anspruch, um die Jagd nach dem sprichwörtlichen schwarzen Mann, der dank superber Darstellerleistungen auch heute noch fesselt.







 

 




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