Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Samstag, 8. Januar 2022

Zum Tode von Sir Sidney Poitier (*20.Februar 1927 - 6.Januar 2021) - Verbeugung vor einem außerordentlichen Leben.









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Als der Sohn armer Tomatenfarmer von den Bahamas zwei Monate vor der Zeit geboren wurde, wie es der Zufall wollte während des Marktes in Miami, sah es nicht aus, als ob er überleben würde. Sein erschütterter Vater hatte bereits einen Schuhkarton als Sarg erworben. Die Mutter suchte in ihrer Verzweiflung eine Wahrsagerin auf.
Deren Spruch ist uns überliefert. Sie sagte

„ Du musst dir um dieses Kind keine Sorgen machen. Er wird leben und einmal ein starker junger Mann sein. Er wird reich und berühmt werden. Die ganze Welt wird einmal euren Namen kennen. Er wird neben Königen gehen“

Niemand hätte damals diese Prophezeiung ernst nehmen können.

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Doch Sidney überlebte, wuchs in einer Lehmhütte in der dritten Welt, auf Cat Island, Bahamas, ohne fließend Wasser oder elektrischen Strom in unfassbarer Armut auf. Als die Familie Anfang der 40iger Jahre nach Nassau zog, hatte er noch nie ein Auto gesehen und wusste nicht, was elektrischer Strom oder ein Spiegel war.

Als seine Eltern ihn im Alter von knapp 15 Jahren , aus Angst vor einer kriminellen Laufbahn, nach einem Maisdiebstahl, in die USA zu Verwandten schickten, hatte er nur 2 Jahre Schulbildung, konnte kaum schreiben und nicht lesen.

Möglich war sein Auswandern, weil er durch die Zufallsgeburt in Miami, das hatte, was laut CSU ein Werk des Teufels ist: Doppelte Staatsbürgerschaft.

Nach einiger Zeit im Hause seines großen Bruders in Miami, Florida, einer unerquicklichen Begegnung mit dem dortigen Ku Klux Clan und einer fast tödlichen Auseinandersetzung mit rassistischen Cops, stahl er sich davon und fuhr nach Harlem, New York, mit einem One Way Ticket. Dort verprasste er , von der Verlockungen der Weltstadt überwältigt, sein letztes Geld und wurde obdachlos, er schlief auf dem Dach eines Hochhauses und in der Toilette schräg gegenüber dem alten Madison Square Garden.
Er war 15 einhalb Jahre alt.

Eine gebrochene Existenz ohne jede Chance.
Aber das Schicksal, und der unbändige Lebenswille des Jungen wollten es anders.
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Er schaffte es sich als Tellerwäscher im Turf Restaurant und Hühnerrupfer im Waldorf Astoria durchzuschlagen – für 4 Dollar und 11 cents die Nacht. Mit Hilfe eines alten jüdischen Kellners, dessen Namen er nie erfuhr, lernte er nach Feierabend selbständig lesen und schreiben – mit Hilfe alter Zeitungen.

In einer der Zeitungen stand eines Tages eine Stellenausschreibung des „American Negro Theatre“: Schauspieler gesucht!

Der junge Sidney, der nie zuvor ein Stück gesehen oder gelesen hatte, nur einen einzigen Film gesehen hatte (Einen Western, deshalb hielt er auch Hollywood für eine Ranch) und keinerlei Erfahrung hatte, meldete sich zum Vorsprechen. Als er im Wartezimmer merkte, dass er einen Text hätte vorbereiten müssen, griff er in seiner Verzweiflung zu einer Damenzeitschrift und statt Shakespeare oder O’Neill, las er die Kolumne „Mein intimes Geständnis“
Er wurde handgreiflich von der Bühne geworfen.

Man legt ihm nahe sich einen Job zu suchen, den er bewältigen könne, Tellerwäscher, zum Beispiel. Derart angestachelt bereitete sich Sidney sechs Monate lang eisern vor, und brachte sich anhand der Radionachrichten mit Norman Brokenshire bei, ohne seinen dicken karibischen Akzent perfekte Bühnenhochlautung zu sprechen – wie ein Weißer. Er wurde nochmals am American Negro Theatre abgelehnt – aber er weigerte sich aufzugeben.

Und so gelang ihm schließlich, trotz angeblichen Talentmangels, der Weg in die Schauspielklasse am American Negro Theatre, zusammen mit Ossie Davis, Ruby Dee, James Earl Jones und Harry Belafonte. Er hatte garnicht vorgehabt Schauspieler zu werden, er wollte nur dem offenbar hellseherisch begabten Mann vom ersten Vorsprechen beweisen, dass er, Sidney Poitier, mehr war als ein geborener Tellerwäscher.

Tatsächlich wurde er der bedeutendste schwarze Schauspieler des 20. Jahrhunderts.

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Der erste dunkelhäutige Mensch der in einem Film dargestellt wurde, war der gute Onkel Tom aus Beecher-Stowes "Onkel Toms Hütte" in einer Verfilmung von 1903 (Regie Edwin S. Porter), gespielt von einem Weißen in Blackface. Das erste große Meisterwerk der Filmgeschichte "Birth Of A Nation (1915)" von D.W. Griffith war zugleich ein ultrarassistischer Film der den Ku Klux Klan idealisierte und glorifizierte. Farbige, Sklaven, wurden in rassistischen Schlüsselszenen von Weißen in Blackface gespielt.

Es dauerte bis 1950 als mit Sidney Poitier der erste farbige Hauptdarsteller in einem Mainstream Film („Der Haß ist blind“) zu sehen war, und er.... änderte Alles.
Sidney Poitier war der Game Changer.

Er öffnete eine Kunstform für 20 Millionen Menschen, die bis dahin nur als Untermenschen, Diener und Sklaven dargestellt waren, seine Lebensleistung war der Anfang vom Ende des (zumindest offenen) Rassismus in Hollywood. Bis zu seinem Erscheinen konnte etwa ein schwarzer Shakespeare-Darsteller im US Film nicht mehr erreichen, als sich als Träger in Tarzan-Filmen auspeitschen zu lassen.
Mit Poitier änderte sich das - für immer.

In einer Filmindustrie die für immer auf beiden Seiten der Kamera von Weißen dominiert schien gelang ihm ein unvorstellbarer Aufstieg gegen jede Wahrscheinlichkeit und gegen unglaubliche Widerstände.
In seinem Vorgarten verbrannte der Ku-Klux-Clan Kreuze um ihn einzuschüchtern, er erhielt Todesdrohungen in Wäschekörben, Dreharbeiten südlich der Mason-Dixon-Linie waren potentiell lebensgefährlich.

Der brutalen Kommunistenjagd in der Filmindustrie der 50iger beugte er sich nicht, obschon das House Committee For Un-American Activities die Macht hatte eine Karriere von heute auf morgen zu zerstören und obschon antirassistische Filme in denen er spielte als kommunistische Verschwörung galten; Loyalitätsklauseln der Studios, in denen er sich von schwarzen Schauspielern wie Canada Lee und Paul Robeson distanzieren sollte, weigerte er sich zu unterzeichnen – auch auf das Risiko hin als verarmter Schuhputzer zu enden wie Canada Lee.

Zwei Jahre war er daraufhin inoffiziell geblacklisted.

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Er war der wagemutige und hochbegabte Protagonist den eine neue Generation sozialkritischer, engagierter weißer Filmemacher suchte; so trafen eine außerordentliche Persönlichkeit und nie zuvor dagewesene Chancen zum richtigen Zeitpunkt aufeinander. Seine Rollenwahl war revolutionär, und wenn es keine Rollen gab die seinen Ansprüchen genügten oder nicht den Werten seiner Eltern entsprachen, arbeitete er, selbst nach seinem Durchbruch, lieber jahrelang in der Gastronomie oder als Maurer.

Er wurde der erste schwarze Superstar Amerikas.
Er war die erste Person of Colour die eine Hauptrolle im US-Fernsehen spielte in „A Man Is Ten Feet Tall“ 1956, der erste Schwarze dessen Name über dem Titel eines Filmes stand, der dieselbe Gage erhielt wie ein Weißer und der erste männliche Schwarze der je für den Oscar nominiert wurde (alle drei Leistungen in „Flucht in Ketten“ 1958), der erste Schwarze der für einen Tony Award am Broadway nominiert war (für „Ein Fleck in der Sonne“).

In den 60igern würden ihm, trotz tausenden Todesdrohungen pro Woche und trotzdem der Ku Klux Clan Kreuze in seinem Garten abfackelte, so viele Durchbrüche auf der Leinwand gelingen, darunter der erste Filmkuss zwischen einer Weißen und einem Schwarzen (1965 in „Träumende Lippen“ bzw. A Patch of Blue) , dass Filmkritiker Leonard Maltin über ihn schreiben würde „Poitier dreht keine Filme sondern Meilensteine“

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1992 bei der Verleihung des Life Achievement Awards des American Film Institute würde George Stevens jr, Poitiers überragende Lebensleistung, eine Kunstform für 20 Millionen Menschen geöffnet und einen Weg gebahnt zu haben auf dem seither ganze Generationen schwarzer Künstler folgten, in diese Worte fassen:

„Der erste Film der einen schwarzen Protagonisten zeigte, entstand in der Morgendämmerung des Mediums, 1903, er hieß „Onkel Tom’s Hütte“, inszeniert von Edwin S. Porter, er war 12 Minuten lang und in ihm färbte ein leicht übergewichtiger weißer Schauspieler sein Gesicht um Harriet Beecher-Stowes legendären Sklaven zu spielen. Die Welt würde beinahe ein halbes Jahrhundert warten müssen, bis ein schwarzer Schauspieler die Möglichkeit haben würde, als Hauptdarsteller die Leinwand zu betreten und stolz zur Farbe seiner Haut zu stehen. Dieser Mann, erfüllt von Würde, Charakterstärke und umgeben von einer Aura ruhiger Empörung, würde die Rassengrenze durchbrechen die fast 5 Jahrzehnte undurchdringlich gewesen war. Dieser Mann ist Sidney Poitier“

Für seine großartige schauspielerische Leistung in „Lilien auf dem Felde“ erhielt Sidney Poitier nicht nur (zum zweiten Mal nach „Flucht in Ketten“) den Darstellerpreis der Filmfestspiele von Berlin, sondern, in einer Sensationsentscheidung der Academy of Motion Picture Arts And Sciences, in Konkurrenz zu Rex Harrison, Paul Newman, Richard Harris und Albert Finney am 13. April 1964 als erster nicht weißer Mensch und erster männlicher Schwarzer der Filmgeschichte den Oscar als Bester Hauptdarsteller.

Nichtmal ein Jahr nachdem Martin Luther King der Welt von seinem Traum erzählte, noch vor den drei Märschen auf Selma, vor der Unterzeichnung des Civil Rights Act. Vierzig Jahre lang sollte kein anderer schwarzer Schauspieler einen Sieg in dieser Kategorie mehr erringen.

Cuba Gooding jr. wird später über diesen Sieg sagen:

 „In dem Moment in dem er tatsächlich als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde, stiegen wir plötzlich alle in der Achtung auf. Wir galten alle plötzlich mehr – seinetwegen“

Und was eine blutjunge Oprah Winfrey empfand, beschrieb sie im Januar 2018 in ihrer bemerkenswerten Rede bei der Golden Globe Verleihung so:

„1964 war ich ein kleines Mädchen, das auf dem Linoleumboden im Haus meiner Mutter in Milwaukee saß, und ich sah im Fernsehen wie Anne Bancroft den Oscar für den besten Schauspieler des Jahres bei der 36.Oscarverleihung überreichte. Sie öffnete den Umschlag und sprach fünf Worte die buchstäblich Geschichte schrieben: Der Gewinner ist Sidney Poitier. Auf die Bühne kam der eleganteste Mann den ich je gesehen hatte. Ich erinnere mich, dass seine Krawatte weiß war und seine Haut war natürlich schwarz, und ich hatte noch nie gesehen dass ein schwarzer Mensch so gefeiert wurde. Ich habe viele, viele Male versucht zu erklären, was dieser Augenblick für mich als kleines Mädchen bedeutet hat, einem Kind das von den billigen Plätzen aus zusah, während meine Mutter zur Tür hereinkam, zum Umfallen erschöpft davon, die Häuser anderer Leute geputzt zu haben. Aber alles was ich sagen kann, ist, zu zitieren und es mit Sidneys Darstellung in „Lilien auf dem Felde“ zu sagen: Amen, amen, amen, amen.“

In einem früheren Tribute Statement für Turner Classic Movies hatte sie schon einmal Bezug genommen:



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Sidney Poitier spielte, in Großaufnahme, den ersten Leinwandkuss zwischen einem Schwarzen und einer Weißen (1965 in „Träumende Lippen“) und war 1967 der erste schwarze Kassenmagnet des US Kinos mit gleich drei seinerzeit gewagten Hits („In der Hitze der Nacht“, „Rat mal wer zum Essen kommt“ und „To Sir With Love“).

Am 10. April 1968 wurde „In der Hitze der Nacht“ der erste Film mit einem schwarzen Hauptdarsteller der den Oscar für den Besten Film des Jahres gewann.

In den Frühsiebzigern durchbrach Sidney Poitier eine weitere Schallmauer, als er der erste schwarze Regisseur in Hollywood wurde und auch diesen Weg für alle afroamerikanischen Filmemacher nach ihm ebnete.

Da er bemerkte, dass die Filmindustrie weiterhin fast ausschließlich nur auf ihn fokussierte, zog er sich mit ungeheurer Konsequenz Mitte der 70iger Jahre für ein Jahrzehnt von der Leinwand zurück, um so ein Vakuum zu erzeugen in das andere schwarze Schauspieler und Schauspielerinnen vorstoßen konnten.

Als er 1976 seine zweite Frau, die weiße Schauspielerin Joanna Shimkus heiratete, schickte der Ku Klux Clan Handgranaten zur Hochzeit.

Als Bürger der Bahamas, und damit des Commonwealth, wurde er 1974 von Queen Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Nach seiner aktiven Karriere (endete 2002) wurde er Bahamianischer Botschafter für Japan.

Er ist Vater von sechs (!) Töchtern.

Er gilt – ohne Abstriche – als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Filmgeschichte.

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Am 6. Januar 2021 schlief Your Excellency Sir Sidney Poitier, Knight Commander Of The British Empire, für immer ein. Ich verbeuge mich vor diesem Leben.


"Ein kleiner Teil von mir selbst geht verloren, wenn meine Freunde nicht mehr da sind", schrieb Sidney Poitier in seinem Buch LIFE BEYOND MEASURE. Mein lieber Sidney, ein großer Teil meiner Seele weint über dein Ableben. In deinen vierundneunzig Jahren auf diesem Planeten hast du mit deinem außergewöhnlichen Talent eine unauslöschliche Spur hinterlassen und den Weg dafür geebnet, dass Schwarze Menschen in der Fülle dessen, was sie sind, gesehen und gehört werden. Du warst ein ikonischer Wegbereiter; dein Leben war gut gelebt. Ich habe Dich als Kind vergöttert und werde mich immer an den Tag erinnern, an dem ich Dich zum ersten Mal traf. Das ist das einzige Mal in meinem Leben, dass ich sprachlos war! Ich saß da, meine Worte klebten aneinander, und du warst damals genauso liebenswürdig und charmant wie in den Jahrzehnten unserer Freundschaft, die noch folgen sollten. Ruhe in Frieden, geliebter Sidney. Du bist und bleibst das wahre Maß eines Mannes."

HALLE BERRY, am 7.1.2021

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Farewell Sidney, Thank you Sir!

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LESETIPPS:

„This Life - An Autobiography“, Sidney Poitier, Alfred A. Knopf Inc., 1. Mai 1980
• “The Measure Of A Man – A Spiritual Autobiography” (dt. “Mein Vermächtnis”), Europa Verlag Hamburg, 2001

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